Ist die Partizipation an einem demokratischen Gemeinwesen eine Frage von Priorität?

Bürger, Gemeinwesen und Demokratie

Bürger einer Demokratie1 haben der Konkretisierung ihrer Versprechen gegenüber eine „Bringschuld“, zu deren fortgesetzter Tilgung es mehr als die regelmäßige Teilnahme an Wahlen bedarf, wobei Schuld bestenfalls eine theoretische moralische Verpflichtung bedeutet: Der (reziproke) Dienst an der Gemeinschaft ist ein freiwilliger, und wo er es nicht ist, wird Demokratie zu einem Zerrbild, einer Karikatur ihrer selbst.

Partizipation bedeutet Zeit für die das persönlich-freundschaftlich-familiäre Umfeld übersteigenden, öffentlichen Belange aufzuwenden, sich mit ihnen auseinander zu setzen, und sie zu beurteilen. Wir bewegen uns an den Rändern dessen, was wir Politik nennen, und zwar als diskutierende, informierte und betroffene Bürger, weil der Bürger selbst im Regelfall nicht Ausführender, also Politiker ist, und damit – als nicht primär politisch Handelnder – auch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Trotzdem kann er eine ganze Anzahl von Verbindungen und Wegen beschreiten, die direkt oder indirekt in die Politik führen. Der Bürger ist nicht zur Passivität verurteilt.

Pflicht alleine wird selten das primäre Movens darstellen, vorrangig wird Interesse, vielleicht auch Talent, ausschlaggebend dafür sein, wie viel Zeit wir in den Themenkomplex Politik investieren; zwei Faktoren sind daher einer Hinwendung zur Politik zuträglich: Interesse und Zeit. Aber beide werden durch eine Vielzahl anderer Möglichkeiten, Versuchungen und Annehmlichkeiten in Anspruch genommen, und jeder verfolgt im Konfliktfeld von Wollen und Können eine implizit oder explizit, mehr oder minder prioritär geordnete Hierarchie2.

Setzen wir ein durchschnittliches politisches Interesse bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung voraus, dann müsste eine größere Menge an verfügbarer Zeit (auch) zu einer verstärkten Beschäftigung mit Politik führen. Bringt ein im Laufe mehrere Jahrzehnte erweitertes Freizeitvolumen kein eben solches politisches mit sich, dann spricht das für ein Desinteresse an öffentlichen Belangen, und weiter bedeutete ein solcher Zeitüberhang bei gleichzeitiger Absenz gesteigerter Partizipation, dass eine Umschichtung persönlicher Prioritäten den Dienst am Gemeinwesen (theoretisch) herzustellen oder steigern vermag.

Freizeitentwicklung

Eine IMAS-Umfrage aus dem Jahr 20073 (österreichische Bevölkerung ab 16 Jahren; Stichprobe 1000 Personen) enthält neben den ermittelten Daten (u.a. das von den Betroffenen selbst geschätzte Freizeitvolumen pro Tag), einen Vergleich mit vier weiteren in einem Zeitraum von fast 30 Jahren durchgeführten Umfragen (Die zugrunde liegende Frage: „Wieviele Stunden bleiben Ihnen allgemein am Tag als Freizeit – ich meine, Stunden neben Ihrer Arbeit, in denen Sie machen können, was Sie wollen?“ (Essen, Anziehen usw. gilt nicht als Freizeit!)). In diesem Zeitraum stieg die Menge an Freizeit pro Tag für die Gesamtbevölkerung um 2 Stunden und 11 Minuten, die der Berufstätigen um 1 Stunde und 19 Minuten – das ist jeweils eine Steigerung um mehr als die Hälfte: Die erste Gruppe kam im Jahr 1979 auf 3 Stunden pro Tag, die zweite auf 2 Stunden und 22 Minuten (Tab. 1). Die Steigerung ist „kontinuierlich“, d.h. in keinem der Jahre in denen eine Umfrage durchgeführt wurde, sank das ermittelte Freizeitvolumen. Einschränkend kommt aber hinzu, worauf auch hingewiesen wird, dass der Anstieg der allgemein verfügbaren Freizeit mit der Überalterung der Bevölkerung zusammenhängt: Pensionisten haben mehr Zeit zur Verfügung als Berufstätige.

Tab. 1: Freizeitentwicklung in Österreich (Quelle: IMAS).

Für einzelne Berufs- oder Bevölkerungsgruppen stellt sich das Freizeitbudget wie folgt dar: Das mittlere Alterssegment (30-49 Jahre) hat weniger Freizeit zur Verfügung als jüngere oder ältere Menschen (es sein denn diese arbeiten, dann sind es einige Minuten mehr, was statistisch aber vermutlich bedeutungslos ist). Ungelernte Arbeiter oder Personen mit einfacher Bildung haben mehr Freizeit als der Durchschnitt, Maturanten oder Akademiker weniger, und Arbeitnehmer mehr als Arbeitgeber. Frauen und Männer verfügen interessanter Weise über etwa das gleiche Freizeitvolumen (Tab. 2).

Freizeitbudget nach Bevölkerungsgruppen und Berufen. (Quelle: IMAS)

Tab. 2: Freizeitbudget nach Bevölkerungsgruppen und Berufen (Quelle: IMAS).

Der Großteil der Befragten ist mit der zur Verfügung stehenden Freizeit zufrieden, ein kleinerer nicht, er äußert den Wunsch nach mehr (Frage: „Würden Sie eigentlich gern mehr Freizeit haben als jetzt, oder sind sie zufrieden, wie es jetzt ist?“). Da dem warum des Wunsches nicht nachgegangen wurde, kann man darüber nur spekulieren (Tab. 3).

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Tab. 3: Zufriedenheit und Verlangen nach mehr Freizeit (Quelle: IMAS).

Engler & Staubli, 20084 analysieren in Form einer Metastudie u.a. die Entwicklung der Freizeit in fünf verschiedenen Staaten (Niederlande, Norwegen, USA, Kanada, United Kingdom) in einem Zeitraum von etwa 30 Jahren (1970-2003; 4-7 Studien pro Land und Zeitraum). Sie berücksichtigen dabei demographische Effekte (s.o.), und schlossen alle Daten von unter 20 bzw. über 65 Jahre alten Personen aus; ebenso die von Pensionisten und Studenten. Die allgemeinen Entwicklungen fassen die Autoren u.a. wie folgt zusammen:

[…] since the early seventies the USA and Norway have been able to slightly increase their leisure level by about one hour. In the USA, this is due to a reduction in market work time, while in Norway it comes from a reduction in nonmarket work of four hours which compensated the increase in market work by three hours. However, leisure has decreased by five to eight hours in Canada, the UK and the Netherlands. The decline was driven by an increase in total market work in the case of Canada and the Netherlands, and by an increase in nonmarket work in the UK. (Abb. 1)

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Abb. 1: Entwicklungen der Zeitaufwendung (Quelle: Engler & Staubli, 2008).

Für die folgende Zusammenfassung gelten – nach Engler & Staubli – folgende Tätigkeiten als Freizeitaktivitäten: Fernsehen, lesen, seinen Hobbies nachgehen, schlafen, entspannen, (zu Hause) essen, und persönliche Fürsorge (personal care); nicht dazu gezählt werden der Abschluss einer Ausbildung, medizinische Behandlungen, religiöses, politisches und freiwilliges Engagement.

Dem Durchschnittsarbeiter (worker) stehen heute wöchentlich zwischen 103.4 (USA) und 110.3 (Norwegen) Stunden Freizeit zur Verfügung. Mit Ausnahme der Niederlande (5 Stunden) beträgt der Unterschied an verfügbarer Freizeit zwischen Männern und Frauen 2 Stunden pro Woche. Generell sank das verfügbare Freizeitvolumen, mit Ausnahme US-amerikanischer Männer und norwegischer Frauen. Die Fernsehzeit pro Woche stieg von 0.9 auf 5.6 Stunden (obwohl die verfügbare Freizeit im Allgemeinen und fast alle anderen Tätigkeiten über den Beobachtungszeitraum abnahmen); parallel dazu sank der Leseaufwand. Die Schlafenszeit (Sex, sonnenbaden, und entspannen inkludiert) stiegt von 0.3 bis 2.4 Stunden pro Woche (insgesamt ca. 60 Stunden). Subtrahiert man die Schlafenszeit vom Freizeitvolumen, werden 24.1 bis 35.1% der Freizeit vor dem Fernseher verbracht (Abb. 2). Der Zeitaufwand für Essen und persönliche Fürsorge (personal care) nahm über den Beobachtungszeitraum ab. Freizeit, so die Autoren, wird vor allem passiv verbracht, und möglicher Weise deshalb als stresserfüllt wahrgenommen, weil das Zeitfenster für aktive Freizeitgestaltung kleiner wurde.

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Abb. 2: Freizeitaktivitäten (Quelle: Engler & Staubli, 2008).

Abschließend ziehen die Autoren folgende Schlüsse:

Our results indicate that, firstly, over time leisure (as well as total market work and total nonmarket work) has converged across countries. Leisure time has dramatically decreased in countries that had high leisure levels thirty years ago and has slightly increased in the other countries. This finding is robust to different leisure measures. […]

Secondly, breaking down time-use aggregates by levels of education reveals that on average higher earnings of highly educated individuals come at the expense of less leisure and more work hours relative to less educated individuals, potentially reducing welfare differences based on income comparisons. Highly educated individuals could increase their leisure time by substituting nonmarket work with market goods. However, nonmarket work is virtually identical across all education categories.

[…]

Freizeitnutzung

Um abschätzen zu können wieviel Zeit in Polititk fließt, kann man die Beschäftigung mit Informationsquellen und Medien (Bücher, Zeitung, Fernsehen, Radio) heranziehen, die Grundlage von Bewertungen und Entscheidungen durch den Bürger sind.

Die IMAS-Umfrage (s.o.) beinhaltet auch eine im Jahr 2005 durchgeführte Umfrage zur Freizeitnutzung (Frage: „Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Freizeit? Könnten Sie mir nach dieser Liste sagen, was Sie häufiger tun? Wenn Sie mir bitte einfach die entsprechende Nummer angeben.“ (Vorlage einer Liste)). Im erläuternden Kommentar wird zunächst festgestellt, dass [a]ngesichts des unbezweifelbaren Anstiegs an frei disponierbarer Zeit […] sich die Frage [stellt], ob damit ein wünschbares Ziel, nämlich die Entfaltung individueller Fähigkeiten und Neigungen der Menschen, erreicht wurde, was zwei Absätze weiter indirekt verneint wird: Es ist aufgrund dieser Befunde nicht zu übersehen, dass die Bevölkerung ihre Freizeit auf eine eher passive Art verbringt. Die inzwischen stark gestiegene Aufmerksamkeit für das Internet wird diese Tendenz der passiven Freizeitnutzung sehr wahrscheinlich noch weiter verstärken. Immerhin ist der Konsument bzw. Nutzer des Weltnetzes wesentlich aktiver (was natürlich auch von der genauen Art der Tätigkeit abhängig ist) als der Fernsehende – die Art der Freizeitnutzung dieses Mediums ist daher optimistischer einzuschätzen. Die ebenfalls angeführte österreichische Verbraucheranalyse 2006 bis 2007 ergab, dass sich 37% der Österreicher täglich und 18% immerhin ein- bis zweimal wöchentlich das Medium Internet nutzen, wobei starke Unterschiede hinsichtlich Alter und Bildung aufscheinen.

An erster Stelle der Freizeitnutzung steht, wie auch von Engler & Staubli (s.o.) ausgewiesen, erwartungsgemäß das Fernsehen (65%), auf das aber erfreulicher Weise an zweiter Stelle das Lesen von Zeitungen und Illustrierten (51%) folgt. An siebter Stelle findet man schließlich das Lesen von Büchern (35%), und noch weiter hinten die Nutzung des Internets (22%). Nicht gesondert aufgeführt bzw. nicht erfragt wurde das Hören von Radiosendungen (vielleicht weil es meist ohnehin nebenbei geschieht, und daher nicht als separate Tätigkeit aufgefasst wird).

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Tab. 4: Häufigste Freizeitbeschäftigungen in Prozent (Quelle: IMAS).

Die Mikrozensus-Erhebung über die Freizeitaktivitäten der Österreicher 19985 inklusive eines Vergleichs mit der im Jahr 1992 durchgeführten, ergibt folgendes allgemeines Bild der hier interessierenden Freizeitaktivitäten (aus der Zusammenfassung):

[…] 45% der Österreicher lesen gewöhnlich keine Bücher; mehr als ein Viertel widmet sich ein bis drei Stunden pro Woche der Lektüre von Büchern, 11% gaben einen Zeitaufwand von vier bis sieben Stunden an, aber nur 7% zählen zu den „Leseratten“, die acht oder mehr Stunden wöchentlich Bücher lesen. Etwa jeder Zehnte opfert weniger als eine Stunde Zeit pro Woche für Bücher. Der beliebteste Lesestoff ist die Unterhaltungsliteratur (50%), gefolgt von Sachbüchern aus Geschichte und Politik mit 21%. Ziemlich beliebt sind auch Sachbücher aus dem naturwissenschaftlichen und technischen Bereich (20%) sowie Reiseberichte und Sachbücher aus Kunst und Kultur (je 18%). Tageszeitungen werden von zwei Drittel der Österreicher regelmäßig gelesen, Wochenzeitungen von 38%; Wochen- und Monatsmagazine sowie Illustrierte von einem Viertel, Fach- und Hobbyzeitschriften (z.B. Wissenschafts- und Sportmagazine) von 22%.

Zu den bevorzugten Radiosendungen zählen Nachrichten und Journale (63%), Pop- bzw. Rockmusik in englischer Sprache (29%) und Unterhaltungssendungen
(25%); zu den Minderheitenprogrammen gehören klassische Musik (8%) und Sendungen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft (7%) sowie Religionssendungen (2%). […] Auch bei den Fernsehprogrammen liegen Nachrichtensendungen (72%) deutlich an der Spitze der am häufigsten gewählten Angebote, gefolgt von Unterhaltungsfilmen oder Serien (39%) und Sportmagazinen bzw. Sportübertragungen (36%). Shows und Quizsendungen werden von 34% häufig angesehen, Filme und Serien mit dem Schwerpunkt „Spannung“ sowie Politmagazine, Dokumentationen und Diskussionen von je 28%. 23% interessieren sich für Wissenschaft und Bildung, 13% für Kulturprogramme. […]

Der Anteil an Personen die keine Zeit für das Lesen von Büchern verwenden stieg um beinahe die Hälfte von 27.8 % (1985) über 40.6% (1993) zu 45% (1998) an (Einschränkend ist aber in Betracht zu ziehen, […] dass 1992 und 1998 durch den deutlichen Hinweis, das Lesen von Fachliteratur für berufliche Zwecke nicht anzugeben, solche Lektüre häufiger nicht genannt wurde als bei der Erhebung 1985). Im Allgemeinen sind Frauen eifrigere Leser als Männer, was sich bereits bei Jugendlichen zeigt (Tab. 5). Ab 50 bzw. 60 Jahren zeigen sich zwei Tendenzen: Häufig finden die Befragten keine Zeit für das Lesen von Büchern, andererseits werden wiederum hohe Anteile von acht Stunden Leseaufwand pro Woche angegeben. Personen mit höherer Bildung lesen mehr, Studenten und Schüler am meisten.

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Tab. 5: Entwicklung des Zeitaufwandes für das Lesen von Büchern (Quelle: Mikrozensus).

Beliebtester Lesestoff in Buchform (Auswahl; Mehrfachnennungen waren möglich; die Zahlen in Klammer beziehen sich auf das Jahr 1992, ohne Klammer auf 1998): Unterhaltungsliteratur: 49,8% (42,5%); Geschichte & Politik 20,7% (17,9%); Hobby & Heimwerken 19,9% (10,3%); Reisen & Geographie: 18,4% (19,7%); Kunst & Kultur (Sachbuch): 17,7% (12,6%). Auch die Wahl des Lesestoffs korreliert stark mit dem Bildungsgrad (Tab. 6 zeigt eine Aufschlüsselung nach dem Alter der Befragten).

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Tab. 6: Beliebtester Lesestoff aufgeschlüsselt nach Altersgruppen (Männer und Frauen). Mehrfachnennungen waren möglich (Quelle: Mikrozensus).

Das Lesen von Zeitungen und Zeitschriften ist keinen großen Schwankungen unterworfen. Etwa zwei Drittel der Österreicher lesen Tages- und ein Drittel Wochenzeitungen (Tab. 7). Drei Viertel aller Personen ab 30 Jahren (bzw. 82% aller Akademiker) lesen regelmäßig Tageszeitungen. Jeder Zehnte ab 15 Jahren liest keine Zeitungen oder Zeitschriften (Personen mit Pflichtschulabschluss: 14%; ohne: 27%). Arbeitslose lesen ebenfalls häufig Zeitschriften und Zeitungen.

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Tab. 7: Entwicklung des Zeitaufwandes für das Lesen von Zeitungen und Zeitschriften (Quelle: Mikrozensus).

Nachrichten und Informationssendungen im Radio werden von Erwachsenen gegenüber allen anderen deutlich bevorzugt (Männer: 64%, Frauen: 61%; 81% der Akademiker; 65% der Pflichtschulabsolventen). Der Unterschied zwischen 1992 und 1998 beträgt 1%. Ein ähnliches Bild zeigt sich hinsichtlich der Fernsehpräferenzen: 72% (1992: 68%) bevorzugen auch hier Nachrichtensendungen (Unterhaltungsfilme und Serien: 39%, Sportsendungen: 36%, Dokumentationen, Diskussionen, Politmagazine: 28%, Wissenschnafts- und Bildungssendungen: 23%, Kulturangebote: 13% – siehe Tab. 8).

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Tab. 8: Beliebteste Fernsehsendungen, aufgeschlüsselt nach Alter (Männer und Frauen). Mehrfachnennungen waren möglich (Quelle: Mikrozensus).

Schlussfolgerungen

Liegt ein Mangel an politisch-demokratischer Partizipation vor? Falls ja, welche Gründe könnten dafür verantwortlich sein? Ist es eine Frage des Könnens oder des Wollens? Letzteres bedeutet, dass eine andere Reihung der Prioritäten den benötigten Raum schaffen kann, ersteres dass wichtigere Angelegenheiten den Freiraum verstellen, oder er in immer geringerem Maße zur Verfügung steht – Prioritäten zu setzen bedeutet diese überhaupt setzen zu können.

Empirische Grundlagen werden immer löchrig und vorläufig sein, die Interpretation der Ergebnisse ist durch statistische Schwankungsbreiten (Stichprobengröße), durch von Jahr zu Jahr veränderte Umfragebögen u.a. limitiert6. Diese Einschränkungen werden (in nicht wissenschaftlichen Veröffentlichungen) zwar in den entsprechenden methodischen Teilen angeführt, aber in Grafiken und Tabellen oft nicht gesondert dargelegt – die Zahlen und Angaben erscheinen dadurch robuster als sie tatsächlich sind. Nichtsdestotrotz stellen diese oft mit großem Aufwand – z.B. waren für die Mikrozensuserhebung 1200 Interviewer tätig – erstellten Umfragen zumindest eine Diskussionsgrundlage dar.

Quantitativ betrachtet, ist es um das politische Interesse der Bürger gar nicht schlecht bestellt: Immerhin sind Informationssendungen in Radio und Fernsehen die am häufigsten in Anspruch genommenen Angebote; etwa zwei Drittel der Österreicher lesen regelmäßig Tageszeitungen und nach unterhaltender Literatur sind Bücher aus dem Themenkreis Geschichte und Politik am begehrtesten – allerdings ist der durchschnittliche Zeitaufwand für das Lesen von Büchern eher bescheiden. Die Qualität (Welche Zeitung wird gelesen? Wie weit ist man an detaillierteren Auseinandersetzungen interessiert? usw.) ist eine andere (wichtige) Frage, sie muss hier aber unbeantwortet bleiben.

Das Interesse an nationalen Angelegenheiten mag zur Genüge vorhanden, die Partizipation ausreichend sein (das lässt sich aus den hier angeführten Daten nicht entscheiden), aber ist sie es, wenn es um europäische Belange geht? Wohl kaum. Wie könnte man hier Abhilfe schaffen? Oder anders gefragt: Kann das Zeitproblem bzw. die Setzung anderer Prioritäten eine Erklärung sein?

Auch hier wird sich keine endgültige Entscheidung treffen lassen, aber zwei Tendenzen kann man, wenn auch nicht einstimmig, doch herausstellen: Zunächst ist die immer wieder vernommene Rede von der Freizeitgesellschaft gar nicht so plausibel wie man meinen möchte. Natürlich steigt innerhalb einer überalterten Gesellschaft durch die zunehmende Zahl an Pensionisten auch die durchschnittlich verfügbare Freizeit – berücksichtigt man aber, wie Engler & Staubli das tun, diese demographischen Effekte, dann zeigt sich innerhalb der arbeitenden Bevölkerung (für die untersuchten Staaten) eine weitgehnd negative Entwicklung, und zwar innerhalb der letzten 30 Jahre. Das bedeutet nicht notwendiger Weise, dass zu wenig Zeit für Politik vorhanden wäre (immerhin kommen Engler & Staubli auf 103,4 – 110,3 Stunden Freizeit pro Woche und Berufstätigen), aber sie wird auch nicht von selbst mehr, und das Setzen von Prioritäten kann schon mal schwierig werden (die eingangs zitierte IMAS Umfrage widerspricht den von Engler & Staubli präsentierten Entwicklungen, hier könnte eventuell eine nähere methodische Betrachtung Abhilfe schaffen). Die zweite wichtige Tendenz ist die der Passivisierung der Freizeitgestaltung, auf die alle hier aufgeführten Umfragen und Analysen hinweisen, und die Engler & Staubli auch für die oft gefühlten Zeitengpässe verantwortlich machen. Es ist nahe liegend, dass zunehmend passiv verbrachte Freizeit, das Zeitfenster für aktive Gestaltung kleiner werden lässt, wenn das Freizeitvolumen ohnehin stagniert. Hinzu kommt noch, dass uns passiv verbrachte Zeit langsam und träge werden lässt, und zwar nicht nur vor dem Fernseher, sondern auch während aller anderen Tätigkeiten – die Motivation sich vom Sofa zu erheben wird immer geringer.

Initiativere, handelnde, und nicht nur gut informierte Bürger – das wäre ein wünschenswertes, erreichbares Ziel.

* * *

Anmerkungen

1Bürger, Gemeinwesen und Demokratie beziehen sich auf das moderne, westliche „Modell“ und nicht auf historische Formen.

2Siehe: Zeit für Demokratie? Demokratie und Zeit.

3IMAS International Report (2007) Freizeit in der alternden Gesellschaft, Nr. 13.

4Engler M, Staubli S (2008) The distribution of leisure time across countries and over time, University of St. Gallen, Department of Economics working paper series (electronic publication).

5Statistik Austria (2001) Freizeitaktivitäten. Ergebnisse des Mikrozensus September 1998.

6Aus den methodischen Anmerkungen zum Mikrozensus 1998: Die Daten werden im Rahmen mündlicher Befragungen durch etwa 1.200 Interviewer erhoben. Das Frageprogramm besteht einerseits aus einem gleichbleibenden Grundprogramm mit Fragen zur Bevölkerungs-, Haushalts- und Wohnungsstruktur sowie zur Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, andererseits aus variablen Sonderprogrammen. […] Als Auswahlrahmen für die Stichprobenziehung dienten die Wohnungszählung 1991 bzw. die laufende Wohnbaustatistik. Der Auswahlsatz liegt bei 0,8% der österreichischen Wohnungen, womit etwa 30.000 Wohnungen bzw. 60.000 Personen erfasst werden. [..] Der Schluss von der ausgewählten Stichprobe auf die Gesamtmasse („Hochrechnung“) ist aufgrund der Wahrscheinlichkeitsrechnung nur innerhalb bestimmter Fehlergrenzen möglich. Der Hochrechnung liegt die fortgeschriebene Wohnbevölkerung der einzelnen Bundesländer zugrunde. Bei den in Übersicht 1 dargestellten absoluten Größen (bzw. den entsprechenden Relativzahlen) beträgt der Bereich des Stichprobenfehlers unter der Annahme einfacher Zufallsauswahl mehr als ±20%. In den Tabellen wurde ein besonderer Hinweis auf diese Fehlergrenzen nicht vorgenommen. […]

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9 Antworten zu “Ist die Partizipation an einem demokratischen Gemeinwesen eine Frage von Priorität?

  1. Gregor Keuschnig 17. August 2009 um 9:32 am

    Ich hatte zugegebenermassen nicht daran gedacht, dass die Pensionisten den „Schnitt“ der zur Verfügung stehenden Freizeit nach oben beeinflussen können. Hinzu kommt sicherlich auch der Faktor, die Gruppe der 30-50jährigen beispielsweise durch Erziehung von Kindern weniger freie Zeit für sich haben bzw. dies so empfinden. Letztlich ist es auch nicht so entscheidend, ob jemand dreieinhalb Stunden oder 3’50 Freizeit zu haben glaubt.

    Du weißt sicherlich, dass ich solchen Statistiken wenig traue. Zumal – wie hier – offensichtlich nach dem Gefühl der Leute gefragt wurde. Knapp vier Stunden Freizeit am Tag würden 28 Stunden Freizeit in der Woche bedeuten. Das heisst, dass die freie Zeit geringer empfunden wird als die Arbeitszeit, die bei Angestellten im Schnitt etwas weniger als 40 Std/Woche beträgt (natürlich gibt es auch hier Ausnahmen). Nimmt man die „Schlafenszeit“, d. h. 60 Stunden, noch dazu, so kommt man auf 128 Std. Die Woche hat jedoch 168 Std., so dass diese Zeit beispielsweise mit Nahrungsbeschaffung bzw. –aufnahme, Körperpflege, Fahrzeit zur Arbeit u.ä. verbracht werden muss. Wobei ein Anfahrtweg von zwei Stunden/Tag (=10 Wochenstunden) als aussergewöhnlich hoch gilt (was es natürlich allerdings durchaus in der Realität gibt; ich selber habe zweieinhalb Jahre lang rd. zweieinhalb Std. pro Tag Fahrtweg [Bahn] gehabt, wobei ich schätzungsweise 60% der Zeit –theoretisch- mit Lektüre hätte verbringen können, ohne das ich das Empfinden von „Freizeit“ gehabt habe). Bliebe noch die Frage, ob man tatsächlich rd. 30 Stunden/Woche für Essen, Einkaufen und Haushalt braucht.

    Entscheidend aber ist m. E. – und Du weist darauf hin, dass dies so ist – dass die qualitative Nutzung der Freizeit nicht erfassbar ist. Man weiss nicht, was die Leute vor dem Fernsehen konsumieren. Man hat keine Ahnung, welche Bücher gelesen werden und was von der Tageszeitung Beachtung findet. Man weiss noch nicht einmal, welche Tageszeitung gelesen wird (Boulevard oder „seriös“?). Tatsache dürfte sein, dass nach einem Arbeitstag (bzw. auch am Wochenende) der Erholungsfaktor als wichtig empfunden wird. Den sehen die meisten beim passiven Freizeitverhalten erfüllt, da von ihnen im Laufe des Tages viel „Aktivität“ am Arbeitsplatz abverlangt wurde.

    Im wesentlichen sehe ich meine Aussage, dass die Beschäftigung der Bürger mit politischen Inhalten eine Frage der Priorität darstellt, nicht erschüttert. Die Zeit wäre vorhanden, wie man oft genug an sich selber feststellen kann (auch ich ziehe gelegentlich den „Konsum“ eines Fussballspiels der Lektüre eines vielleicht komplizierten Artikels oder gar Buches vor). Oft genug ist auch das krasse Gegenteil zu bemerken: Da viele Arbeitsplätze primär sitzende Tätigkeiten sind (Büro), ist der Hang zur körperlichen Beschäftigung (Fitness; Sport, teilweise sogar Extremsport) in einigen Bevölkerungsgruppen ausgeprägt. Da gilt dann die ebenfalls physisch eher passive Tätigkeit des Bücherlesens als Fortsetzung des Berufs (auch wenn die Thematik eine andere ist).

    • metepsilonema 19. August 2009 um 12:15 am

      Du weißt sicherlich, dass ich solchen Statistiken wenig traue. Man sollte seine Einwände immer konkret formulieren und nicht diffus verallgemeinern. Ich denke mir ähnliches auch oft, und das ist sicher immer wieder berechtigt, aber es sollte uns nicht davon befreien, die Methodik der entsprechenden Studien unter die Lupe zu nehmen – der bloße Einwand alle Statistiken seien geschönt, gefälscht oder schlampig ist zu wenig (ich weiß, hast Du auch nicht behauptet). Ich wüsste nicht wie man die zur Verfügung stehende Freizeit anders, als durch die Betroffenen selbst, feststellen könnte (die Frage nach dem Gefühl war eine Frage, es wurde auch konkret nach der verfügbaren Freizeit gefragt).

      Ich bin heute um etwa 19 Uhr nach Hause gekommen, und morgens um etwa 8:00 außer Haus gegangen – da bleiben für alles was ich erledigen muss oder möchte 4-5 Stunden übrig. Das ist nicht viel. Sagen wir eine Stunde für Essen und Haushalt; eine Stunde (oder etwas mehr) für Blog und Hobbies, und dann stellt sich die Frage: Buch oder Zeitung? Ich kann durchaus verstehen wenn dann jemand sagt, dass er keine Zeit hat, bzw. es für ihn nicht nur eine Sache von Prioritätssetzung ist (Zeit für Kinder u.ä. ist hier nicht einmal eingerechnet).

      • Gregor Keuschnig 19. August 2009 um 10:30 am

        Okay, konkreter: Bekanntlich kommt es bei Umfragen auf die genaue Fragestellung an. Ich will jetzt nicht episch über Wahlumfragen herziehen und deren Pseudoalternativen, die da aufgemacht werden und zu verzerrenden Ergebnissen führen. Bleiben wir beim konkreten Beispiel: Natürlich wäre eine Untersuchung über das tatsächliche Freizeitverhalten (mit Stoppuhr und Protokoll) sehr viel aussagekräftiger. Vieles spricht dafür, dass bei einer Schätzung des Probanden unterschiedliche Parameter auftreten, die dann im Ergebnis über einen Kamm geschoren werden. Was der eine als „Freizeit“ bezeichnet, ist für den anderen noch notwendiges Übel. Bestes Beispiel dürfte das Einkaufen sein. Hier sind grundsätzlich beide Lesarten denkbar. Nicht umsonst geht der Einzelhandel dazu über, das eigentlich notwendige Übel Einkaufen als „Event“ aufzuhübschen, um ihm den grauen Beschaffungscharakter zu nehmen. Und es ist ja auch für einen selber ein Unterschied, ob man durch die Innenstadt bummelt, um vielleicht etwas zu sehen, was man dann gerne kaufen kann oder gezielt einen Gegenstand besorgen muss (das „Besorgen“ bei Heidegger!).

        Wenn ich gegen 17.30 Uhr nach Hause komme und gegen 23.00 Uhr zu Bett gehe, so habe ich an diesem Tag theoretisch 5’30 freie Zeit. Diese Zeit ist jedoch nicht vollständig mit Freizeit gleichzusetzen. Man nimmt eine Mahlzeit ein, vielleicht muss man tatsächlich noch etwas einkaufen; Körperpflege steht an, ab und an Hausarbeit, usw. Nehmen wir an, dies braucht im Schnitt 1’30, so habe ich dennoch noch 4 Stunden zur Verfügung. Bestimmte Vorgänge sind vielleicht ritualisiert – so versuche ich bspw. die ZDF-Nachrichten um 19 Uhr (20 Min) und die ARD Tagesschau um 20 Uhr (15 Min) zu sehen. Sind dies nun 35 Minuten mit der ich mich mit politischer Bildung beschäftige? Höchstens teilweise, wenn die Meldung über ein Busunglück in Bangladesch oder einen Wohnungsbrand in Kairo eigentlich unwichtige Informationen sind. Primär erfahre ich hier etwas über aktuelle Ereignisse, die eher selten einen nachhaltigen Charakter entwickeln dürften.

        Ich schaue mir dann fast immer die Themenvorschau der Sendung „Kulturzeit“ auf 3sat an – nach ca. 5-10 Minuten weiss ich, ob ich die Sendung schauen möchte oder nicht. Falls nicht, kann ich ein, zwei Zeitungsartikel lesen oder einige Seiten aus einem Buch oder einen Ausdruck aus einem Blog, o. ä. Jetzt habe ich die „freie Zeit“ von 20.15 (Ende der Tagesschau) bis 23 Uhr (falls ich nicht vorher müde werde). Das sind tatsächlich „nur“ 2’45. Das subjektive Gefühl liegt vielleicht darin, dass man nur rd. 3 Stunden freie Zeit hat – und dies, weil man seinen Tag einigermassen durchstrukturiert hat (so etwas entfällt natürlich zunächst einmal bei Schichtarbeitern und kinderreichen Familien).

        Jemand, der in einem Verein organisiert und beschäftigt ist, wird auf die Freizeitfrage anders antworten als jemand, der permanent in Discos geht. Unter Umständen wird er die Beschäftigung mit dem Verein nicht mehr vollständig der Freizeit „zurechnen“, sondern als „halben Beruf“ betrachten, usw.

        Natürlich verstehe ich, dass jemand nach 8 Stunden Arbeit + Anfahrt + Be- und Versorgungen keine besondere Lust mehr verspürt, Parteiprogramme zu lesen oder politische Veranstaltungen aufzusuchen. Was ich aber nicht verstehe ist die Diskrepanz zwischen dieser verstehbaren Distanz und der teilweise vehement vorgebrachten Verdrossenheit. In der Regel ist die Aussage „ich habe dafür keine Zeit“ falsch (die wenigsten sind Selbständige, Spitzenmanager, Dauerschichtarbeiter, usw). Sie ist nur eine Verkleisterung der – ebenfalls zulässigen – Aussage: „Ich habe andere Prioritäten“. Wir haben das natürlich nicht zu richten.

        Es gibt Soziologen und Parteienforscher, die dieses diffuse Halbinteresse der Bürger als von der Politik wenn nicht gewollt so doch wohlwollend hingenommen betrachten. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte in den 90ern suggeriert, die Bürger würden in einer Art Delegation an die Politik agieren. Demnach gäbe eine Art „Geschäft“: Mehre meinen Wohlstand ein bisschen und lass mich ansonsten in Ruhe – dafür wähle ich Euch dann. Ich glaube, dass es dies tatsächlich gegeben hat (und immer noch gibt). Das zeigt sich u. a. an Volksbegehren auf kommunaler Ebene, die meist an der zu niedrigen Abstimmungsbeteiligung scheitern. Zu Wort melden sich immer nur die Betroffenen; der grosse Rest hat meist wenig Interesse an detailreicher Beschäftigung. Ansonsten wird à la longue der paternalistische Staat immer noch gewünscht (und auch dort, wo er u. U. massiv eingreift, findet sich ein eher gemässigter Protest).

        Das alles mindert nicht mein Plädoyer für die „Bringschuld“ des Bürgers. Aber sie ist nicht einklagbar. Dies würde dem allgemeinen Verständnis von Demokratie widersprechen. Ich frage mich nur: warum eigentlich?

      • metepsilonema 21. August 2009 um 12:01 am

        Selbstverständlich hat die Fragestellung Einfluss, und verschiedene Interpretationen von Begriffen können das Ergebnis verzerren. Aber solange man nachvollziehen kann, wie gefragt wurde, oder wie klar man definiert hat wie Freizeit verstanden werden soll, sehe ich kein prinzipielles Problem (ich meine mich an eine Stelle zu erinnern, die genaueres zur Art und Weise der Erhebung beinhaltet, aber ich finde sie nicht mehr).

        Was die Verdrossenheit betrifft, oder die Politikerschelte: Ich halte das in weiten Teilen für einen Reflex, entweder Abwehr (weil man auf etwas angesprochen wurde, was zumindest unbewusst unangenehm ist) oder erlernt (durch Erfahrung oder Gewohnheit – man kann das gelegentlich auch an sich selbst beobachten, wenn man auf ein Ereignis angesprochen, hervorbringt: „Na der hat’s nötig“).

        Klar, „der Bürger“ will Gemütlichkeit und Annehmlichkeit, und „die Politiker“ Wähler die ihnen ihre Stimme geben, wenn es ihnen gut geht – zumindest könnte man es sich so vorstellen. Aber wenn es tatsächlich so ist, könnten wir unsere Demokratie gleich begraben.

        Warum Einklagbarkeit dem Verständnis von Demokratie widerspricht? Weil man niemanden zur politischen Beschäftigung zwingen kann, und weil der Entschluss an einer Gesellschaft mitwirken zu wollen der Freiwilligkeit bedarf (sonst bräuchten wir keine liberale Demokratie).

      • Gregor Keuschnig 21. August 2009 um 8:03 am

        Klar, “der Bürger” will Gemütlichkeit und Annehmlichkeit, und “die Politiker” Wähler die ihnen ihre Stimme geben, wenn es ihnen gut geht – zumindest könnte man es sich so vorstellen. Aber wenn es tatsächlich so ist, könnten wir unsere Demokratie gleich begraben.
        ich würde das nicht so pessimistsich sehen. Warum soll "der Bürger" keinen "Kontrakt" mit der politischen Klasse schliessen? Wählt nicht jeder im Prinzip nach seinen persönlichen Präferenzen 8die auch ökonomischer Natur sein können)? Demokratisch bleibt es, weil ja die Möglichkeit der Abwahl besteht. Das war m. E. auch 1998 der Grund, warum Kohl abgewählt wurde. Die Kanzlerschaft war zu lange (16 Jahre) und die Dynamik war dahin. Schröder versprach nicht alles anders zu machen, aber vieles besser. Das "Risiko" war minimal; Utopisten haben keine Chance.

        Warum Einklagbarkeit dem Verständnis von Demokratie widerspricht? Weil man niemanden zur politischen Beschäftigung zwingen kann, und weil der Entschluss an einer Gesellschaft mitwirken zu wollen der Freiwilligkeit bedarf (sonst bräuchten wir keine liberale Demokratie).
        Natürlich kann man niemanden zur Beschäftigung zwingen. Aber bedeutet eine liberale Demokratie imemr nur die Inanspruchnahme von Rechten? Wie sieht es mit den altmodeischen „Pflichten“ aus? Ein Begriff, der diskreditiert ist und dies auch – wenn es nach libertären Denkern geht – auch möglichst lange bleiben soll.

        Wenn die Freiwilligkeit zur Verweigerung an oder mindestens mit der demokratisch-politischen Kultur als Recht postuliert wird (was ich unbedingt unterstützen würde), müsste dann auch nicht Modus gefunden werden, der in einer gewissen Konsequenz diese Verweigerung spiegelt? Ich weiss, dass man sehr schnell in elitäre Gefilde stösst, wenn man diese Fragestellungen aufwirft. Das ist gar nicht beabsichtigt.

        Oder – anders herum gefragt: Warum ist eine niedrige Wahlbeteiligung per se etwas Schlechtes? Könnte es nicht vielmehr auch so sein, dass diese 55% oder 65% der mindestens teilweise Interessierten (und Kundigen) eine viel bessere Kompetenz wiederspiegeln (mag sie im Einzelfall auch noch so „falsch“ anmuten) als 85%, von denen dann 20% Spass- oder Radikalparteien aus „Protest“ gewählt haben?

        Ich glaube nicht, das sich in niedrigen Wahlbeteiligungen eine Demokratieverdrossenheit zeigt, sondern „nur“ eine Unlust an der Partizipation der aktuellen politischen Lage und ein Überdruss den Akteuren gegenüber. Ich hielte es auch für einen Fehler, die Nichtwähler sozusagen mit auszuzählen, weil (1.) ihre unterschiedliche Motivlage nicht erfassbar ist und (2.) dann Desinteresse noch belohnt würde. Willyams Vorschlag, auf em Wahlzettel eine Art Nichtwählervotum einzurichten, also einen aktiven Nichtwählerstatus einzurichten, fände ich da besser (obwohl es m. E. technisch nicht funktioniert).

      • metepsilonema 23. August 2009 um 12:07 am

        [Ich habe mir erlaubt die Kursivsetzung in Deinem Kommentar richtig zu stellen]

        Das mag in der Tat zu pessimistisch sein, aber es hat etwas an sich, das mir nicht gefällt, auch wenn ich es nicht genau benennen kann: Vielleicht, weil es mir wie eine Preisgabe vorkommt, wie ein Verkauf daher kommt … gegen das Schließen eines Kontrakts spricht zunächst nichts – ja, vielleicht ist es das, der oben beschriebene „Kontrakt” läuft auf eine Selbstaufgabe des Bürgers hinaus (macht nur was ihr wollt, solange es mit gut geht).

        Aber bedeutet eine liberale Demokratie imemr nur die Inanspruchnahme von Rechten? Wie sieht es mit den altmodeischen „Pflichten” aus?

        Natürlich, aber Pflicht beinhaltet im „letzten Moment” eine freiwillige Entscheidung (ich muss meine Pflicht nicht tun), und dann wäre eine zweite Sache, dass man quasi gezwungen ist in dieser Gesellschaft, mit dieser Staatsform zu leben, man hat eigentlich keine andere Wahl – da ist es nur gerecht, wenn dann etwas Spielraum bleibt. Im Grunde ist das was Du im nächsten Absatz ansprichst, eigentlich müsste es einer Art Ausstiegsklausel geben, für die die nicht „dabei sein” wollen.

        Die Wahlbeteiligung sagt zunächst gar nichts über die Kompetenz der Wähler (es könnte ja sein, dass gerade die Kundigen nicht mehr wollen). Aber, selbst wenn die wenigen Kundigen bessere Kompetenz haben sollten, gibt ihnen das schon das Recht für (oder über) die anderen zu bestimmen?

    • Gregor Keuschnig 25. August 2009 um 8:53 am

      Naja: ich muss meine Pflicht nicht tun ist ein Satz, über den sich trefflich streiten liesse. Ich bin da etwas anderer Meinung, wobei ich allerdings die Partizipation an der Demokratie zunächst einmal nicht als „Pflicht“ sehen würde. Wenn mir, um es salopp zu sagen, das gesellschaftliche und politische Umfeld in einem gewissen Augenblick gleichgültig ist, dann ist das in Ordnung.

      Nicht die Wahlverweigerung stört mich, sondern die Wahl aufgrund unzulänglicher Informationsbeschaffung. D. h. hier sehe ich den Wähler in der Pflicht. Man könnte es abstrakt formulieren: Die Ausübung des Wahlrechts ist verknüpft mit der Pflicht zur Information. Ich würde sogar weitergehen: Die Pflicht zur Information ist verknüpft mit Basiswissen über die demokratischen Institutionen.

      Natürlich sind diese Betrachtungen theoretisch, weil diese „Pflicht“ einzufordern nicht opportun erscheint und in der Praxis auch schwer umzusetzen wäre (man könnte über eine Art Staatsbürgerprüfung nachdenken, die man ja auch für einbürgerungswillige Ausländer vorsieht. Warum nicht auf ähnlichem Niveau etwas für „Inländer“ konzipieren?). Es erscheint mir nur reichlich merkwürdig, dass wir für alle möglichen Verrichtungen wenigstens einmal Prüfungen zu absolvieren haben, das Wahlrecht jedoch frei vergeben wird.

      • metepsilonema 25. August 2009 um 11:28 pm

        Mit ich muss meine Pflicht nicht tun wollte ich nur darauf hinweisen, dass sie keinen Zwang bedeutet. Auch wenn Pflicht eine bestimmte Verhaltensweise nahe legt, kann ich mich (theoretisch) dagegen entscheiden.

        Natürlich ist es in Ordnung, wenn einem das gesellschaftliche und politische Umfeld in einem gewissen Augenblick gleichgültig ist, aber als Dauerzustand, und bei gleichzeitiger Nutznießung eben jenes gesellschaftlichen Rahmens, doch bedenklich.

        Den Gedanken einer Wahlrechtsprüfung finde ich sehr interessant (vielleicht mit Vorbereitung in der Schule und abzulegen vor dem Erreiche des Wahlalters), allerdings wird es das nicht geben: Welche Partei möchte sich der Gefahr aussetzen, Wähler ohne Urnengang verlieren zu können? Das Gefährliche daran ist, dass eine solche Prüfung natürlich Möglichkeiten des Missbrauchs bietet – und man müsste auch sicherstellen, dass allen die gleichen Möglichkeiten der Wissensaneignung offen stehen.

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