Claus Leggewie erklärt was Demokratie ausmacht, er ermahnt den Bürger, und fordert sein Engagement – allerdings erinnert das bisweilen an den Wetterbericht: Von der prognostizierten Gewitterstimmung, kann man nur einige Wolken am Horizont entdecken.
Das Volk ist verdrossen.
Demokratie ist eine Form von Herrschaft in der Mehrheitsbeschlüsse legitimierend wirken. Hingegen herrschen – wie Popper schon feststellte -, weder die Massen, noch das Volk, sondern sie legitimieren politische Vertreter auf Zeit, und können, wenn notwendig, zu bestimmten Zeiten korrigierend eingreifen, und andere Vertreter bestimmen. Demokratie beruht nicht in letzter Instanz auf der Weisheit und Selbstherrschaft der Massen, sondern in erster, denn die politischen Vertreter haben (zumeist, das ist natürlich auch systemabhängig) nach einer Wahl relativ freie Hand, sofern sie parlamentarische Mehrheiten „organisieren“ können.
Die Behauptung, dass Demokratie eine Lebensform darstellt – abseits der richtigen Feststellung, dass das Mehrheitsprinzip auch Bereiche außerhalb der politischen Sphäre durchdringt -, konterkariert Leggewie in Teil II selbst durch die bemerkenswerte Feststellung, dass der demokratische Staat […] nicht dazu da [ist], soziale Gleichheit herzustellen, kulturelle Herkunftsdifferenz zu assimilieren und religiöse Leitkulturen zu installieren; vielmehr war er genau die Instanz, die differenzbedingte Konflikte, namentlich Religionskriege und Klassenkämpfe, politisch egalisiert hat. Nicht eine, sondern viele Lebensformen, die zwar demokratisch geregelt sein können, dies aber weder immer, noch überall sein müssen (man denke etwa an kirchliche Hierarchien oder Unternehmensstrukturen).
Nach einer kleinen Feier des unwiderstehlichen Postulat[s] der Legitimität durch die Mehrheit, und einiger diskutabler Beispiele, verdecken die ersten postdemokratischen Wolken ihre Strahlkraft, und trotz dem prominenten Beispiel Berlusconi ist keineswegs nur die italienische Sonne gemeint, auch auf die österreichischen Alpentäler fallen erste Schatten: Die Zweite Republik […] leistet sich im „Krone“-Imperium eine demokratiewidrige Pressekonzentration und eine rechtspopulistische Sperrminorität, die vom „Kostümfeschismus“ des phänomenalen Herrn Haider zum unverblümten Neofaschismus von Strache und Konsorten führte, deren grinsend-niederträchtige Verachtung für demokratische Rechte und Prozeduren namentlich jüngere und jüngste Männerkohorten entzückt. Und weiter: Man könnte sie in Schach halten, nur, wo bleibt sie, die Gegenwehr selbstbewusster österreichischer Demokraten? – Das Vertrauen in die Demokratie als Herrschafts- und Lebensform nimmt keineswegs nur in Österreich ab. Einen Absatz zuvor wurde noch Lincolns government of the people, by the people, for the people gepriesen, und eingangs erstaunt, zitieren wir noch einmal, von der Weisheit und Selbstherrschaft der Massen geschrieben. Oder sagt man dem Volk im Zweifelsfall doch besser wo es sein Kreuz machen soll?
Der Widerspruch lässt sich nur dann aufheben, wenn man als Ursache des Rechtspopulismus und verwandter Phänomene, einen Schwund demokratischer Gesinnung, eine Enttäuschung ihrer Problemlösungskompetenz erkennt. Aus der heiteren Hoffnung des citoyen wird Volkes Verdrossenheit. Es „postet“ eben. Belegt wird das – offenbar in Verkennung geographischer Umstände -, mit einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung in der jeder dritte Deutsche [meint], die Demokratie funktioniere schlecht; unter den Ostdeutschen waren 60 Prozent dieser Meinung. Mit anderen Interpretationsmöglichkeiten, oder einer breiteren Datenbasis hält man sich nicht lange auf, die Verdunklung scheint unübersehbar: Generell verstärkt sich der Eindruck, demokratische Politik werde den mannigfachen Herausforderungen nicht gerecht, das heißt, die Demokratie „liefere“ nicht mehr. Das Ergebnis ist unstimmig. Gut, aber was ist denn nun gemeint? Ist die Demokratie als Staatsform nicht (mehr) funktionstüchtig, oder wird hier ein Versäumnis der Politik geltend gemacht? Besonders der mit postdemokratischen Erfahrungen ungesegnete Leser, der nicht das Glück hatte sie aus seinem Bekannten- und Freundeskreis zu kennen, oder ihnen in der Schlange vor der Supermarktkassa, oder den öffentlichen Verkehrsmitteln habhaft geworden ist, wundert sich, erwartet er doch, wie von seinem Arzt eine in einem Befund gründende Diagnose – auch wenn sie essayistisch daherkommt.
Oder bezweckt Leggewie eine demokratische Rekrutierung mit dem Mittel der Überzeichnung? Darauf wird zurückzukommen sein.
Probleme. Engagement. Diskurs.
Wir sind zu lauwarmen Demokraten geworden, die die Kämpfe vergangener Jahrhunderte aus dem Blick verloren haben. Gemütlich warten wir im Lehnstuhl, und rufen Väterchen Staat in die Pflicht, oder lassen uns diese monetär abgelten. Leggewie legt den Finger in die richtige Wunde, aber die demokratischen Versprechungen fordern das Engagement der Bürger – die Brutalitäten, die in der demokratischen Morgendämmerung verübt wurden, haben damit wenig gemein. Was Leggewie einfordert, die „Bringschuld“ der Bürger, benötigt keinen historischen Rückgriff, sie ist systemimmanent, und kann aus dem demokratischen Regelwerk abgeleitet werden.
Das Märchen von der Allzuständigkeit der politischen Klasse ist tatsächlich eines, was Leggewie aber übersieht ist, dass das demokratische Systems von seiner eigenen Mutter, der Moderne und ihrer Schwester der Technisierung zunehmend untergraben wird. Sie drängen den Bürger durch ein explodierendes Informationsangebot und eine Vielzahl technischer Annehmlichkeiten und Verrichtungen in die Passivität – da nimmt es nicht wunder, dass man sich nicht zuständig fühlt, wir sind es nicht anders gewohnt.
Warum die schönwetterdemokratische Rechnung nicht mehr aufgeht, hat objektive Ursachen: Der Staat steckt in der Globalisierungsfalle (auch wenn man das anders sehen kann), hat viele Kompetenzen an supranationale Organisationen abgegeben, und die Hoffnung grenzenlosen Wirtschaftswachstums [ist] endgültig zerstoben, kurzum der Blick in die Zukunft wurde vernachlässigt, der Zeittakt kurzatmig und nur auf die aktuelle Legislaturperiode gerichtet – was darüber hinausgeht, wird durch Lobbyisten verhindert. Das Versagen in der Klimapolitik ist besonders groß, die Zeit knapp, und die Folgen weitreichend. Die Konkurrenz durch semidemokratische und autoritäre Staaten könnte – so Leggewie -, gerade auf dem Feld der grünen Technologien, eine Herausforderung für den Westen darstellen, und demokratischen Mehrwert bringen, denn: Trotz der grünen Parteien blieb die freiwillige Wahl veränderter Lebensstile ohne politische Übersetzung; die praktische Konsumkritik nachdenklich gewordener Verbraucher zündete politisch nicht, auch die Verbraucherverbände sind schlafende Riesen.
Der Klimapolitik, als demokratische Angelegenheit per se (staatliche Regelungen reichen nicht, die Bürger müssen wieder Gestalter ihres Gemeinwesens werden), sollte sich jeder einzelne Bürger verpflichte fühlen, denn lebendige Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass sie neue Konfliktlinien und Gelegenheiten in der Gesellschaft erkennen, dass sie Agenten des Wandels im Alltag und in der sozialen Lebenswelt auch politisch repräsentieren. Ist das nicht der Fall, nutzen die bösen Postdemokraten die Gunst der Stunde, und gewinnen Oberwasser, folglich muss man ihnen auf die Finger klopfen, und für seine demokratischen Überzeugungen kämpfen. Täglich.
Das bedeutet, nicht nur zu kommentieren (im Internet oder anderswo), nicht nur dafür zu sein, sondern zu handeln. Engagement, eben.
Stimmigkeit
Die „Pflicht“, die „Bringschuld“, das Engagement der Bürger einer Demokratie ist auf einer prinzipiellen Ebene gefordert, unabhängig davon wie allfällige Umstände aussehen. Leggewie hat Recht, wenn er Demokratie neu erfinden, neu „lehren“ will, aber er begründet dies – indirekt – auf Problemen (Klimawandel, etc.) oder drohenden Entwicklungen (Postdemokratie), oder versucht zumindest das Engagement der Bürger auf diesem Wege zurückzugewinnen. Das ist natürlich zulässig, genügt aber nicht, weil die demokratischen Institutionen etwas für den Bürger leisten (versprechen), und er dadurch in die Pflicht genommen wird – der Bürger würde zwar handeln, aber aus Motivationen, die zusätzlich zur demokratischen Pflicht bestehen, aber eigentlich nicht eingefordert werden, sondern nur im Sinne eines allgemeinen Konsens hinzutreten können. Dabei muss man zwischen persönlichem Lebensentscheidungen bzw. -stil und allgemeinem Rahmen unterscheiden – erstere unterliegen nur bedingt der Sphäre demokratischen Einflusses, und werden politisch nur selektiv abgebildet.
Berlusconi mag dem postdemokratischen Spektrum zuzuordnen sein, Strache ist ein ganz anderes Phänomen, und der Erfolg dieser und ähnlicher Parteien nicht unbedingt mit einem Mangel an Demokratie zu erklären (immerhin wurden sie gewählt, von Bürgern, die eine demokratische Entscheidung getroffen haben), und man fühlt sich an die Praktik erinnert, so lange abstimmen zu lassen, bis das richtige herauskommt. Gewendet sieht die Sache so aus: Gerade weil das Volk wählen kann, werden auch Zeitgenossen mit Stimmen bedacht, die nicht alle glücklich machen. Aber das bedeutet keinen Mangel an Demokratie (sondern ist vielmehr eine ihrer Folgen), und selbst wenn es einer an Urteilskraft, Verstand oder Information sein sollte, ist das nicht damit gleich zusetzten. Überhaupt zeichnet sich Leggewies postdemokratisches Bild durch Konturlosigkeit aus, wirkt hingeworfen, ist mehr Rhetorik, als Diagnose, und unzureichend begründet.
Die Fragen nach Zeit und Priorität bleiben ausgeklammert; auch wie die Bürger schaffen sollen, was die politische Klasse verabsäumt hat, zuzüglich Alltag, Familie, Arbeit, Lebensplan und anderen Dingen – niemand versteht seine Existenz als demokratischen Selbstzweck. Gerade der Klimawandel ließe sich (vermutlich) durch rigide staatliche Regelungen und Vorschriften abwenden oder einschränken, nur verbietet sich das aus Respekt vor der persönlicher Freiheit der Bürger. Daher liegen bestimmte Entscheidungen in ihrer persönlichen Verantwortung – die Demokratie delegiert sie quasi. Aber selbst diese Verantwortung ist prinzipieller Natur, und existiert jenseits drängender Probleme, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen, und ist durch ethische Überzeugungen und persönliche Lebensführung gekennzeichnet. Das hat mit Demokratie zu tun, erfordert aber kein Engagement in öffentlichen Angelegenheiten. Der Bürger kennt somit zwei Sphären der Verantwortung: Eine politisch-öffentliche und eine persönliche. Beide erfordern – will man sie ideal erfüllen – ähnliche Tugenden, aber der Appell sie zu politisieren, öffentlich zu verhandeln, geht fehl. Oder anders ausgedrückt: In der öffentlichen Sphäre kann die persönliche Lebensführung, zwar Gegenstand der Diskussion, nicht aber der Regelmentierung sein.
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*Demokratie neu erfinden?, „Die Presse“, 21. 08. 2009.
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Irgendwie habe ich es verschwitzt, aber nur fast: Sehr schöne Replik!
Danke!