Wege und Bewegung: Zwei Arten, zwei Menschen.

Wege entstehen dadurch, dass man sie geht*. Und doch kann man sich auf ihnen bewegen, ohne dass etwas Neues entsteht, was aber mehr an der Art der Fortbewegung liegt, als an den Wegen selbst. Wir unterscheiden uns in unseren Bewegungsmustern und sie verraten wo wir gerade unterwegs sind und was wir erwarten: Besonders deutlich wird das, wenn sich der Weg teilt oder wir ihn verlassen wollen.

Ein Spaziergänger findet einen Weg, obwohl er keinen sucht und an jeder Abzweigung wirft er eine Münze; an der selben Stelle faltet ein Wanderer seine Karte auf und falls sie ihm nicht weiter hilft, sucht er sich einen eigenen Pfad.
Mit beiden kann ich wenig anfangen: Zum Spazierengehen habe ich keine Zeit und der Wanderer ist eine schräge Figur, verstaubt und lächerlich in der Ernsthaftigkeit seines Bemühens. Aber irgendetwas lässt sie vor meinem geistigen Auge lange genug verweilen und ich erkenne, nachdem ich sie der alten Namen und Hüllen entledigt habe, dass mein eigener Gleichmut derselbe ist, der dem Spaziergänger seine innere Ruhe gibt; und den Willen und die Rastlosigkeit des Wanderers kenne ich ebenfalls: Aus ihnen schöpft er seine Kraft, denn er ist immer unterwegs**.

Die beiden sind also auf ihre Art Freunde; der eine trat aus dem Kreis der Natur, sucht etwas jenseits von ihr und der andere findet für die Dauer seiner Erkundungen zu ihr zurück. Beide wissen um die Schmerzhaftigkeit der Trennung und die Sehnsucht nach einer harmonischen Welt und ihre grundsätzlich verschiedenen Auffassungen spiegeln sich in der Dauer und dem Gelingen ihrer Rückkehr. Ein Wanderer bricht auf, vielleicht für immer, und ein Spaziergänger geht einfach hinaus und ist nach einer Stunde wieder zurück. Er benötigt keinen Mut und versteht nicht, was seinen Freund fort treibt.

Nicht weiter zu kommen, ist der Sinn des Spazierengehens***. Ein Wanderer kennt sein Ziel vielleicht noch nicht, aber er sucht es und bewegt sich von einer Stelle zu einer anderen um etwas zu erreichen – dieses „etwas“ kennt der Spaziergänger nicht, er versteht es auch nicht, da er um des Gehens Willen unterwegs ist. Erreicht ein Wanderer einen Gipfel, dann ist er einige Momente lang Spaziergänger, aber kurz darauf hängen seine Augen am Horizont und obwohl er einen Augenblick lang glücklich war, muss er weiter. Muße ist ihm nicht fremd, aber er gestattet sie sich selten; hierin ist ihm der Spaziergänger überlegen und auch in seinen Fähigkeiten zu genießen und zu betrachten, denn er kennt keine Hast und lässt alles sein wie es ist, außer dort wo er hinsteigt. Proviant und wetterfeste Kleidung sind ihm ein Gräuel und Regen hasst er, aber kein Wanderer weiß wie lange seine Reise dauern oder was ihm unterwegs begegnen wird.

Ein Wanderer wird immer dann zum Spaziergänger, wenn er rastet, wenn er anhält, sieht, staunt, aber das Staunen ist nicht sein Ziel. Ein Spaziergänger lebt in einem überweltlichen Verständnis, solange er spaziert; ein Wanderer gehört in seiner Zerrissenheit ganz der Erde, aber einige wenige von ihnen auch dem Himmel. Ich finde, daß alles gut ist**, dieser Satz kann beiden über die Lippen kommen.

Wer nur wandert, verliert Schönheit und Dankbarkeit, wer nur spaziert sich selbst und seine gestaltende Kraft. Und das Leben ist vielleicht dort am schönsten erfüllt, wo es beide im Wechsel gestalten oder an den Rändern in einander über gehen.

* * *

* angeblich von Franz Kafka (siehe dazu hier, letzter Kommentar)
** Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos
*** Fast wortgleich sagte das eine mir unbekannte Person im Gespräch mit ihrer Freundin während einer Straßenbahnfahrt.

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13 Antworten zu “Wege und Bewegung: Zwei Arten, zwei Menschen.

  1. Phorkyas 28. Februar 2011 um 12:15 am

    Es gibt ein Gedicht von Antonio Machado (1875-1939)
    (frei übersetzt)

    Wanderer, es sind deine Spuren,
    dein Weg und nicht mehr.
    Wanderer, es gibt keinen Weg,
    der Weg entsteht beim Gehen.
    Beim Wandern entsteht der Weg.
    Und beim Rückblick
    sieht man den Pfad,
    den man nie mehr
    zu betreten hat.
    Wanderer, es gibt keinen Weg,
    nur Kielspuren im Meer.

    Caminante

    Caminante, son tus huellas
    el camino, y nada más;
    caminante, no hay camino,
    se hace camino al andar.
    Al andar se hace camino,
    y al volver la vista atrás
    se ve la senda que nunca
    se ha de pisar.
    Caminante, no hay camino,
    sino estelas en la mar.

    • metepsilonema 28. Februar 2011 um 11:52 am

      Danke. Ein schönes Gedicht, aber eben nur der eine Teil, wie ich meine; – steht das im Original wirklich so hart:

      Und beim Rückblick
      sieht man den Pfad,
      den man nie mehr
      zu betreten hat.

      • Phorkyas 28. Februar 2011 um 12:34 pm

        Nein, das ist wohl ein Uebersetzungsfehler von mir – in der Uebersetzung, die in dem Band stand, woraus ich das Gedicht kannte, stand es auch anders. Auch aehnlich wie hier:
        „so siehst du die Spur die kaum jemals wieder begangen wird“
        http://442766.forumromanum.com/member/forum/entry_ubb.user_442766.1232032182.1106700571.1106700571.1.caminante_no_hay_camino_mit_uebersetzung-pilgerausmainz_isthier_de.html
        (Ich hatte es woertlich uebersetzt, meinem vermotteten nicht existenen Sprachgefuehl nach, dachte ich, die Konstruktionen „hat zu“ wuerden im Deutschen und Spanischen doch aehnlich gebraucht – was in einigen Faellen auch stimmt.. hier aber nicht – obige Uebersetzung sieht ziemlich gut aus..)

        [Das aendert an der Zuschreibung an Kafka natuerlich nichts – auf dieser einen Seite steht auch 1913 fuer das Gedicht von Machado -.. vielleicht sind aber schon zu anderen Zeiten andere Menschen auf das gleiche Bild verfallen..]

      • metepsilonema 28. Februar 2011 um 1:20 pm

        Allerdings ist Dein Schluss (die Kielspuren im Meer) weit schöner, als die Abdrücke im Meer.

        Es bezieht sich – scheint mir – auf eine sehr alte und weit verbreitete Sicht der Welt: Die Wiederkehr des Gleichen (findet man auch im Buddhismus und Hinduismus). Ich habe jetzt aber nicht, die Zeit es genauer zu lesen, abends dann.

        Was meinst Du mit der Zuschreibung an Kafka?

  2. Phorkyas 28. Februar 2011 um 1:42 pm

    *g* – die „Kielspuren“ sind leider uebernommen, was ‚estelas‘ sind muesste ich eh im Woerterbuch nachschlagen (und war dann gestern zu faul).
    Ich meinte die Zuordnung von Wege entstehen dadurch, dass man sie geht, welches Herrn Kafka zugeschrieben wurde. (Machado scheint zumindest etwas Aehnliches geschrieben zu haben. – das spanische Gedicht gefaellt mir, ganz unabhaengig davon, sehr gut, diese Wiederholungen geben ihm schon etwas Beschwoerendes — diese Metapher mit dem Spuren im Meer hab ich bei einem anderen span. Poeten auch sehr schoen umgesetzt gelesen, glaube ich..)

    • metepsilonema 1. März 2011 um 1:55 am

      Bei Kafka (zumindest in diesem Satz) geht es nur um die Bewegung, bei Machado scheinen beide Motive auf: Bewegen (wandern) und stehen (das bei mir mit dem Spazieren vergleichbar ist). Aber bei ihm fällt es stärker zusammen; – zuerst war es mir zu religiös, dann wieder überhaupt nicht und ich wunderte mich warum es beim Gottesdienst gesungen wurde (aber wahrscheinlich steckt doch zu viel Gleichmut darin).

      Camino – bedeutet nur Weg oder Pfad (weil es in der letzten Strophe nicht mehr übersetzt wurde)?

      Die Wiederkehr des Gleichen wird eigentlich auch nur in der ersten Strophe explizit (insofern muss ich das auch wieder einschränken).

  3. Phorkyas 1. März 2011 um 4:33 pm

    (Die religioese Assoziation liegt vielleicht auch nahe, weil camino auch schnell zum Camino de Santiago wird?)

    Nun endlich zum Text: Hast Du deinen Wanderer nicht ein bisschen nietzeanisch nach dem Erhabenen ueberformt? – Ob Pilger oder nicht, zaehlt fuer viele Wanderer nicht das Unterwegssein, die Routine (wie der Laeufer, der in seinen Rhythmus kommt, so findet auch der Wanderer seinen ‚Trott‘?), Landschaft und Umgebung wahrzunehmen, aber gleichzeitig selbst taetig, sich bewegend? (In Handkes ‚Morawischer Nacht‘ muesste sich auch einiges zum Wandern finden.. und ich bin gerade nicht 100%ig sicher, aber als er in Spanien ist, wird auch eine Begegnung zwischen Lorca und obigem Machado erwaehnt, der wohl auch ein begeisterter Wanderer gewesen sei.. aber es koennte sein, dass ich da gerade auch etwas durcheinanderbringe)

    Im Uebrigen finde ich die geistige Gegenueberstellung von Wanderer und Spaziergaenger sehr schluessig.

    • metepsilonema 3. März 2011 um 12:21 am

      Jeder Wanderer (oder Pilger) hat ein Ziel das er erreichen möchte, explizit oder im Sinn einer Suche (zumindest in meinem Verständnis, aber Du kannst gerne ein Gegenbeispiel anführen); er möchte also an einen bestimmten oder zumindest anderen Ort, das ist der Rahmen in dem auf Reise geht. Natürlich geht man auch um des Gehens willen, aber der Wanderer muss es nicht und tut es nie nur deswegen, sonst wäre er ein Spaziergänger.

      Ich will damit gar nicht abstreiten, dass es Mischformen gibt oder beide immer schon Mischungen sind — ganz im Gegenteil, ich glaube, dass wir beides sind oder, dass es erstrebenswert ist beides zu sein: Ein Ziel das man erreichen will, ist doch nur von (einigem) Wert, wenn es auch der Weg zu ihm war; jemand der am Ende seines Lebens etwas erreicht, aber dafür ein Leben lang unter (selbst auferlegtem) Zwang stand, der hat doch etwas falsch gemacht (um es einmal sehr plakativ zu formulieren).

      Dann ist da noch etwas nicht ganz Unwichtiges: Wandern bedeutet Mühe, spazieren nicht, letzteres ist fast ausschließlich Genuss (das Wandern auch aber dort ist er immer mit der Mühe des Wegs verbunden und deshalb ein anderer). Der Wanderer kennt Gefahren von denen der Spaziergänger nichts weiß; er muss viel mehr auf seinen Weg Acht geben.

      Die morawische Nacht kenne ich nicht, aber warum sollte das Thema dort nicht auch auftauchen.

      • Phorkyas 7. März 2011 um 12:44 am

        Was die Charakterisierung der beiden Typen geht, liegen wir gar nicht so sehr auseinander, glaube ich, wenn überhuapt. Das Wandern ist Arbeit, deshalb hat man ja nachher aber auch das Gefühl etwas erreicht zu haben (deswegen sind mir auch Lektüren lieber, die einer Wanderung in noch unbekanntes Terrain gleichen..)

        Das Spazieren ist zielloses Umherstreifen,.. (wobei ja doch meist ein Zielpunkt existiert: der Ausgangspunkt – aber der Weg dorthin zurück ist eben noch offen, man lässt sich treiben..)

        Da sind wir doch d’accord?

      • metepsilonema 7. März 2011 um 1:32 am

        Ja, d’accord! Das Ziel des Spazierengehens ist das (im Wesentlichen) unveränderte Zurückkommen. Der Weg ist offen, aber nicht beschwerlich.

  4. Phorkyas 1. März 2011 um 4:55 pm

    Nachtrag:
    Hier wird Machados Geschichte aehnlich erzaehlt, wie ich sie auch im Kopf hatte:
    http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/wind_und_seele_koennen_nirgends_gruenden_1.8017481.html
    (allerdings kann es sein, dass sie in der Morawischen Nacht so gut wie gar nicht vorkam – komisch denn Handkes «Versuch über die Jukebox» habe ich ja gar nicht gelesen)

  5. Uwe 28. März 2011 um 6:06 pm

    Schöne Gegenüberstellung dieser beiden Formen des Unterwegsseins – Wandern und Spazieren, wobei letzteres auch ein Sichgehenlassen im ungefähren Raum ist und ersteres eher ein Sichaufmachen mit vorbestimmtem Ziel. Obgleich ich sie nicht so deutlich unterscheiden und auch fließende Übergänge zwischen ihnen annehmen würde. Aber der Kontrast schärft das jeweils Eigene der beiden Bewegungen und regt zum Weiterdenken an. Danke dafür.
    Letzthin habe ich ein Buch gelesen, dessen Hauptfigur ein leidenschaftlicher Spaziergänger ist. Dort findet sich folgende schöne Bemerkung: „Die Kunst, sich auf Spaziergängen nicht zu langweilen, besteht darin, den gleichen Gegenstand wie gestern zu betrachten, sich aber etwas anderes dabei zu denken.“ (Christoph Simon, Spaziergänger Zbinden, Zürich 2010; wurde von Herrn Keuschnig auch in seinem „Begleitschreiben“ positiv besprochen). Grüße, Uwe.

    • metepsilonema 28. März 2011 um 10:56 pm

      Danke. In der Realität möchte ich auch nicht so scharf trennen, in der theoretischen Betrachtung schon (das schärft wieder den Blick für die Ausnahmen und Übergänge, die ich gar nicht abstreiten will — im Gegenteil!).

      „Spaziergänger Zbinden“ kenne ich nicht, nur die Besprechung (ich habe das Buch aber auf Gregors Empfehlung hin verschenkt).

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