Bernard

Ein Schrei, mein Schrei wird mir bringen, was nicht durch das Meine ist. Diese Worte fuhren in Bernards Kopf herum, wirbelten durcheinander, bildeten, mit anderen gemeinsam, verschiedenste Kombinationen, offensichtlich sinnlose und solche die es weniger waren, setzten sich fest und lösten sich wieder, nur um erneut ihren Platz zu beanspruchen. Bernard wusste nicht woher sie kamen, doch sie waren da, wühlten ihn auf und trotz ihrer Inkongruenz und Unverlässlichkeit verstand er was sie zu sagen hatten, was er zu sich selbst sagte, was sich aus dem Unbewussten in die Form der Sprache ausgoss. Ohne dass es ihm jemand befohlen hatte, nicht einmal er selbst, versuchte sein Körper alles, was ihm an Macht und Kraft zur Verfügung stand, in die Formung eines Schreis zu stecken, sich mit allen Mitteln bemerkbar zu machen und doch schwieg er und bemüht keine Geste: Bernard schrie und nichts regte sich.

Er hallte in sich hinein, Resonanzkörper seiner selbst und begriff seinen Wunsch, begriff was ihm allem Anschein nach fehlte und wahrscheinlich nie vorhanden gewesen war. Bernard sah zurück und zugleich auf, von seiner Bank in das Blau des Himmels und nach einigen Momenten rasch abwärts: Marmorne Verkleidungen, stuckene Schnörkel, Balkongeländer, sich dunkel abhebend, ihre Längsstreben in einander verschlungen; die Leuchtreklamen hingen wenig lebendig, fast störend über den Schaufensterpuppen, Männer und Frauen, in T-Shirts und Jeans, Unterwäsche oder eleganter Kleidung: Bernard bemerkte eine Melancholie, die immer stärker hervortrat, die anwesend gewesen sein musste, wenigstens den bisherigen Tag, wahrscheinlich aber länger, jedenfalls war sie dagewesen, bevor er überhaupt zu schreien oder den Schrei zu denken begonnen hatte: War sie die Ursache? Oder doch etwas anderes?

Ganz gleich wie man es aufschließen wollte, wenn man es überhaupt konnte, Bernard vermisste etwas Entscheidendes, erst seit wenigen Minuten, aber es ließ alles, was hinter ihm lag, zusammenbrechen, langsam, so als ob er etwas gebaut hatte, eine unmögliche Konstruktion, die trotz der fehlenden Verstrebungen einige Zeit lang aufrecht gestanden war, auch wenn sie es, den Gesetzen der Statik folgend, niemals hätte tun dürfen; dies stand, das fühlte Bernard deutlich, in irgendeinem, wenn auch noch dunklen, nicht ergründbaren Zusammenhang mit dem Bedürfnis, seinem Schrei, der ihn auch auf die Entwertung hinwies, gegen die er sich zu verteidigen hatte, hilflos, weil seine Mittel und Möglichkeiten beschränkt waren. Bernard erhob sich langsam, er zitterte und schwieg, schob den Kopf ein Stück weit aufwärts, war aber zu schwach den Himmel zu erreichen, setzte den rechten vor den linken Fuß und fand sogleich in einen, an seinem Zustand gemessenen, überraschend flüssigen Schritt.

Wieder glitten Dinge an Bernard vorbei, Tee, Seife und Schuhe, für begierige, sinnliche Augen bereit gestellt und wiederum Kleidung, Schaufensterpuppen, aber auch Menschen, die betrachtend davor standen oder ziellos umher schlenderten. Reflexe an der Oberfläche, denn Bernard konzentrierte seine Kraft darauf, den Zusammenbruch aufzuhalten, sich gegen die aufkommende Bedrohung zu verteidigen; Bernard kannte nur noch sich selbst und es ging um alles, das fühlt er, um alles, bei einem, der den Großteil seines Lebens hinter sich hatte und seine Hoffnung nicht mehr auf die nähere oder fernere Zukunft verlegen konnte: Er war in einem Alter, das nur mehr erfüllte Hoffnungen kennen konnte, es durfte sich nichts mehr ergeben, nichts Wesentliches jedenfalls: Das was zu tun war, musste bereits getan worden sein. Bernard rempelte eine Schwangere an und eine alte Dame, murmelte irgendetwas, vielleicht eine Entschuldigung und taumelte weiter, auf und davon.

Er hatte niemals irgendwelche Hoffnungen gehegt, weder auf Erlösung noch auf ein ordentliches Gehalt, er hatte genommen, was es gab, die Schulzeit abgesessen, war nach dem Wehrdienst Postbeamter geworden, hatte in den Tag hinein gearbeitet, gelebt, war frühmorgens aufgestanden, sein ganzes Arbeitsleben hindurch und in der Widersprüchlichkeit seiner Beschäftigung, dass sie getan werden musste und am Ende nicht nur beschissen war, dass es viel schlimmer hätte kommen können, seine Befriedigung gefunden. Nun aber hatte sie sich aufgelöst, rückwirkend, und in ihr Gegenteil verkehrt: Bernard sah im Spiegel der Fensterscheiben und selbst in einem schäumenden Rinnsal, Wasser, das eine Putzfrau über den Gehsteig gegossen hatte, einen anderen, undankbaren Menschen, einen Selbstbetrüger, faul und feige; er hatte versagt, Bequemlichkeit und Behaglichkeit vorgezogen, nichts gewagt und alles Lebendige verkümmern lassen.

Bernard hielt, gerade zehn Zentimeter vor einer Litfaßsäule des Stadttheaters, der kleineren Bühne, wie man sie auch nannte. Das besondere Leben. Eine Komödie in, aber weiter kam er nicht: Die schwarzen Buchstaben drohten aus dem eintönigen Weiß zu springen, hielten ihn fest und Bernard wagte keinen Schritt, wankte kurz und erstarrte. Erst nach langer Zeit, als man ihn ansprach und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei, nickte er knapp, trat zur Seite, bleich, aber gelöst und befreit; Bernard war es gleich wohin er ging, ob er den Bus oder die Straßenbahn nahm und bei welcher Station er sie wieder verließ. Nicht, dass in er seinem Leben alles wohlbegründet getan oder unternommen hatte, aber er war immer sicher gewesen, sicher was er wollte: Aber auch die Sicherheit war verschwunden. Dabei war der Tag wie sonst auch, die Luft kalt und klar, der Himmel wolkenlos blau und die Strahlen der Sonne schwach: Die Kälte behauptete sich bereits, wenngleich sie ihre Übermacht in der nahen Zukunft nur anzudeuten vermochte: Die Dinge und Menschen waren reif und schwer und zum ersten Mal wurde Bernard bewusst, dass selbst im Vergehen, im Sterben noch eine Schönheit liegt. Ein Busch, eingefasst von einer steinernen Sockelwand befand sich plötzlich vor ihm, ein Schlehdorn, ein Rhododendron vielleicht, mit feinen, bogenförmig erhobenen Zweigen und winzigen, in Längsreihen angeordneten, kleinen Blättern, die an ihrer Spitze breiter als an ihrem Ansatz waren und stellenweise schon verfärbt, fleckig schwarz und rot, aber noch mehrheitlich grün: Ein buntes Rauschen, unerklärlich schön, wundervoll.

Man muss für etwas gelebt haben, auch wenn es dafür keine Rechtfertigung gab; zwar vermochte Bernard seine Nichtalltäglichkeit nicht zu finden und die vergeudete Zeit machte ihn traurig. Aber als er den Strauch erneut betrachtete, begriff er, dass es noch nicht zu spät war, dass man Dinge, Menschen und Handlungen aufladen konnte, ein magischer Akt, auf den man sich verstehen musste, aber er war möglich und gelang, wie gerade eben: Und dann hob er seine Arme und tat einen markerschütternden Schrei.

18 Antworten zu “Bernard

  1. metepsilonema 2. November 2011 um 9:03 pm

    Habe noch eine kleine Korrektur angebracht.

  2. blogozentriker 3. November 2011 um 10:14 am

    Ich frage mich, ob es an dieser Stelle hier: „… Mitteln bemerkbar zu machen und doch schwieg er und bemüht keine Geste: Bernard schrie und nichts regte sich“ nicht heißen müsste: „Bernard schrie NICHT und nichts regte sich“? Für die Deutung scheint mir das nicht ganz unerheblich.

  3. phorkyas 3. November 2011 um 11:09 am

    Wunderbar… Bei den Zweigen und dem magischen Akt fühlte ich mich schon an die „Unmittelbare Wirklichkeit“ von M. Blecher (bzw. die Diskussion dazu – http://phorkyas.wordpress.com/2011/09/30/) erinnert…

    Und an einen blogozentrischem Hohlkörper, den du nun zu einem, wahrscheinlich imaginären, (Ur-)Schrei verholfen hast.

  4. Gregor Keuschnig 3. November 2011 um 11:34 am

    Starke Prosaminiatur. Ich glaube, dass der vermeintliche Schrei Bernards zu Beginn nichts weiter als ein Versuch eines Schreis war – der aber stumm blieb. Ausdruck des nicht-gelebten Lebens (pathetisch formuliert) Mir kommt dann die existentialistische Lebenseuphorie ein bisschen zu plötzlich.

    • Phorkyas 3. November 2011 um 12:02 pm

      Interessant, dass wir alle es sofort so interpretieren, dass der Schrei nicht stattgefunden habe. Sind wir schon so desillusioniert?

      PS. Eines der ersten Gedichte einer mir näher bekannten Person lautete so:

      Schrei

      Erschallen sollte ein Schrei,
      erschütternd, von eigener,
      innerer Kraft getragen,
      sollte endlich nach außen tragen,
      was innerlich mich erdrückt,
      sollte mir Luft verschaffen,
      meine Seele befreien.

      Allein;
      ich schaffe es nicht,
      mein Mund bleibt verschlossen,
      meine Stimme still,
      nur meine Gedanken
      nur in Gedanken
      habe ich gesetzt
      den Fuß an jene Stelle
      wo niederwärts
      kein
      Weg zurück

      Meinen Mund will ich öffnen,
      meine Stimme erheben,
      aber ich weiß:

      Ich bleibe stumm
      und mein lautloser Schrei
      hallt so nur wider
      von den Wänden
      meiner selbst
      und
      bewirkt nichts
      nichts,
      nichts…

      (Frühjahr 1999)

      • phorkyas 7. November 2011 um 9:27 pm

        Schade.. der Text hätte irgendwie mehr Kommentar/Diskussion verdient. – Mein Pulver hatt‘ ich aber erstmal verschossen und nun muss wieder Pause sein…

      • metepsilonema 8. November 2011 um 10:24 pm

        Danke. Aber es waren schon ein paar ganz gute dabei und ich kann und will auch nichts erzwingen. Pause mangels Pulvers oder anderwärtig bedingt?

        Und unter vier Augen: Wahrscheinlich gibt es in Kürze (Vorsicht Metapher!) eine überarbeitete Fassung.

      • blogozentriker 9. November 2011 um 10:07 am

        Einen ansprechenden belletristischen Text zu Tode zu diskutieren – in dieser Erwartungshaltung spiegelt sich die ganze Perversion dieses Phorkyas!

      • Phorkyas 10. November 2011 um 6:36 pm

        „Mete, der Blogo haut mich wieder.“ – Wenn ich mich derart beklagte, was für ein armer Teufel wäre ich. (Nur wird mir daraus bestimmt wieder der Strick gedreht, ich hätte mich beklagt.)

        Was wollte ich sagen? – Selbst wenn, wäre es wohl b e l a n g l o s. Nicht einmal schreien will ich noch. Lieber einen „Doppelplusgut“-Button an die Stirn tackern und den malträtierten Schädel durchs Netz schleifen?

      • metepsilonema 10. November 2011 um 9:25 pm

        Auf ihn!: Kratzen, beißen, zwicken — hier ist alles erlaubt!

        Im Ernst: Es ist gerade viel zu freundlich, ruhig und gemütlich, um an so etwas zu denken … und belanglos finde ich Deine Kommentare nicht.

    • metepsilonema 3. November 2011 um 6:07 pm

      Über die Plötzlichkeit habe ich auch schon nachgedacht … vielleicht mehr Geduld, eine andere Form, ein anderes Ende … obwohl es so nicht schlecht ist. Aber ein wenig reizt mich eine zweite Version schon (so mir etwas einfällt).

  5. blogozentriker 10. November 2011 um 8:26 pm

    Ich finde die Formulierung: „den Gesetzen der Statik folgend“ höchst unglücklich. Weil ja hier gerade die Dynamik, die im „folgend“ steckt, also in dieser Bewegung, strikt ausgehebelt ist durch die Gesetze der Statik! Das fühlt sich falsch an! Statik ist ja Reglosigkeit: statisch. Und wenn ich Gesetzen folge — dann ist das ein Prozess, eine Bewegung. Natürlich lässt sich leicht sagen: Gut, das ist sehr kleinkariert … aber poetisch ist es falsch. Und genau diese Art von Sinnbrüchen macht den Sinn der Literatur eigentlich ja aus. Und deswegen hat mete diesen Einwand auch verdient, meine ich.

    • metepsilonema 10. November 2011 um 9:30 pm

      Nein, nein, nein: Gar nicht kleinkariert, im Gegenteil, ich mag solche Überlegungen sehr.

      Auch wenn ich nicht ganz folgen kann: Die Konstruktion folgt den vorgegebenen Gesetzen, kann in diesem Folgeleisten aber durchaus dynamisch sein, es gibt ja verschiedene Arten von Häusern, Hütten oder Palästen.

      [Edit: Völliger Schwachsinn, bitte vergessen! Danke.]

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