Maxime VI

Dem Superlativ immer, ausnahmslos!, misstrauen.

Da wir häufig nicht überprüfen können, ob er tatsächlich zutrifft und seine Verwendung kaum begründet wird, muss man davon ausgehen, dass er im Dienst des Interesses, der Werbung, der Parteilichkeit und der Unwahrheit, steht.

9 Antworten zu “Maxime VI

  1. Rainer Rabowski 14. August 2014 um 10:23 am

    Aber wenn er im Dienst des Ausdrucks steht – und da auch mal gebraucht wird?

    Misstrauen kann man eigentlich jeglicher Aussage, jeder.
    Und womöglich ist Ausdruck letztlich wichtiger als „Wahrheit“?

    • metepsilonema 17. August 2014 um 8:44 pm

      Der Einwand ist berechtigt, auf der anderen Seite stellt sich das Problem dann eigentlich doch wieder nicht, wenn man weiß, dass es um Fiktives oder Subjektives geht.

      Man kann jeder Aussage misstrauen, aber wenn ich unsere mediale Welt „wer laut ruft oder auffällt findet Gehör“ voraussetze und mir ansehe, wie sich, in der Ukraine etwa, die Parteien organisieren oder, etwas ganz anders, Bücher und Autoren, angepriesen werden, dann lenken ebendiese Superlative (oder Extreme), „gut“ und „böse“, „größtes Werk der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur“, usw. wichtige Entscheidungen oder schaffen „Tatsachen“ und Zustände, die zu kritisieren, kaum mehr möglich ist, man muss also vorher ansetzen…

      Wichtiger, de facto, vielleicht. Nichtsdestotrotz gibt es Bereiche, etwa die Politik, in denen ein Konzept wie Wahrheit im Hinblick auf z.B. Gerechtigkeit, unentbehrlich ist.

  2. Rainer Rabowski 18. August 2014 um 3:53 pm

    Wahrheit ist heute eigentlich ein operationaler Begriff, der laufend angepasst werden muss. (Vielleicht nicht ganz unähnlich der Sprache und je und je bedingten Aussagenotwendigkeiten.)

    Absolut ist Wahrheit eigentlich nur noch erheblich in der Entscheidung einer Aussage ja oder nein, Lüge oder nicht. Aber selbst da geht es dann oft schon los, weil die Interessen der Aussagen je und je bedingte sind.

    Ich bin auch nicht sicher, ob diese Werte – gleichwohl sie Bestandteile der „Orientierungen“ sind und bleiben werden – noch taugen.

    (Beispiel: Putin ist für mich sowohl „subjektiv“ ein Lügner wie objektiv – weil ich mich entscheide, bisher vertrauenswürdigen Nachrichtenquellen zu folgen anstatt seiner bislang häufig genug offenkundig gewordenen Desinformation. Aber bereits vor dem entscheidenden Gremium – dem Weltsicherheitsrat – ist Wahrheit als Kategorie schon eine hoffnungslos unterlegene nämlich interessengeleitete. Und doch wird es ohne „den Lügner“ keine Lösung geben: Seine Position muss also irgendwie anerkannt werden. Und inwieweit ist Wahrheit dann noch die Referenz, wenn es mindestens zwei davon gibt?

    Was ist gerecht, wenn er – wieder nur als Beispiel – mit seinem Hinhalteverhalten den Tod von x Syrern in Kauf genommen hat für vergleichsweise kleinliche Relativierungen der Wahrheit seiner Gegenspieler, und nun für eine Minderheit an Verbrechern, die lieber Russen sein, den falschen Staat aber nicht verlassen wollen, „Gerechtigkeit“ fordert, sich taktisch empört und einen Hilfskonvoi schickt. Und so weiter. Ich will das gar nicht diskutieren, führe es nur aus, um zu zeigen, dass es „die Politik“ demnächst immer öfter – wenn es nicht immer schon so war – mit diesen verdreherischen Umgang mit Wahrheit (oder Gerechtigkeit usw.) zu tun bekommen wird. Die Wahrheit – die Gerechtigkeit – definiert der Stärkere. Und da sind die anderen – „Wir“ / die gleichfalls verbrecherischen USA usw. – nicht besser.)

    Und zuletzt (jetzt wieder Superlativ, um auch noch dem den Ausdruck, die mittels Unschärfen „erweiterte“ Fähigkeit dazu zu verteidigen): Vielleicht ist diese Fähigkeit zur Überdehnung also von Sprache / Wahrheit / Empfinden … ein immenser Vorteil? Vielleicht käme man sonst noch dazu, die Wahrheit als absolute letztlich als totalitär zu empfinden, da sie keinerlei Auswege mehr lässt?

    Allzu oft kann einem vor der Wahrheit ja doch nur grausen …

    • metepsilonema 19. August 2014 um 7:40 pm

      Wahrheit ist hier nicht als „naiv-aufklärerische“ zu verstehen (siehe dazu auch den Link unten), sondern als „aufgeklärt-aufklärerische“ (Stichwort: Totalität); sie ist in diesem Zusammenhang aber noch immer der beste und knappste Begriff (auch missverständlich, zugegeben). Wahrheit hat mit Realität, mit Verbindlichkeit, mit Regelmäßigkeit, mit einer unabhängig von uns existierenden Welt, mit Erkennen, usw., zu tun, kurzum: Wir verhalten uns alle so, als wäre es möglich und sinnvoll, dass Aussagen über die Welt, in welchem Umfang und mit welcher Sicherheit auch immer, prüfbar sind oder, anders formuliert, dass die Welt, in welchem Umfang auch immer, erkennbar ist (das schließt Irrtümer, Missverständlichkeiten, Vorläufigkeit, Einschränkung, Prozesshaftigkeit, usw., keineswegs aus).

      Wenn wir Putin als Lügner bezeichnen oder diejenigen, die einen Schuldigen benennen, obwohl alle verfügbaren Informationen dies nicht zulassen, dann beziehen wir uns auf eine Konstruktion, die wir als zumindest vorläufig verbindlich erachten und die sich auf „Fakten“ (Informationen) stützt (natürlich können wir vieles gar nicht prüfen und müssen Quellen oder Personen vertrauen, Vorläufigkeit muss mitbedacht werden). — Die Anerkennung einer Position, eine Lösung und ein Gremium, bzw. darin verhandelte Interessen, sind m.E. etwas anderes (dass wir diese Unterscheidung überhaupt treffen können, spricht wieder für das stillschweigend verwendete Konzept „Wahrheit“, wie jede Rede von Fiktion immer etwas wie Realität, Gegebenheit oder Wahrheit voraussetzt). — Ich glaube auch nicht, dass die Definition durch den Stärkeren, der Missbrauch, das Konzept schon ad acta legt, diese Praxis ist so neu nun auch wieder nicht. — Letztbegründungen sind unmöglich, Werte werden also immer auch Vereinbarungssache sein und damit relativ (allerdings gibt es in der Menschheitsgeschichte doch wieder weitgehenden Konsens in ganz elementaren Bereichen, z.B. das Tötungsverbot).

      Ob die Wahrheit schon ihre Durchsetzung oder Kenntnisnahme verlangt? Ich glaube, nein. Dann fiele der Verteidigungsgrund weg, auch im Fall eines weichen Begriffs (allerdings scheint mir der Superlativ viel häufiger der Durchsetzung und damit dem Wahrheitsanspruch zu dienen).

      * * *

      Ich habe vor einiger Zeit einen längeren Text zu einem verwandten Thema geschrieben, dort (pdf).

      • Rainer Rabowski 20. August 2014 um 11:55 am

        Sorry für meine Kurzangebundenheit, aber darauf möchte ich mich jetzt weiter nicht einlassen.
        Ich sehe da Konstruktionen von Konstruktionen, die noch rascher in die Irre aber zumindest in lähmende Dilemmata führen. Und in den Verlust von Handlungskompetenz.

        Ich behaupte nicht, dass Handeln um des Handelns willen der bessere Zug wäre. Aber er verhilft zumindest kurzfristig dazu, die letztliche Ohnmacht zu überwinden (die selber wieder eine sein kann) . Ich halte das letztlich für „weiterführender“ als die neuerliche Atomspaltung einer Letztbegründung.

        DAS ist natürlich ebenfalls ein Zirkel. Und ich weiß gerade auch nicht hinaus.

  3. Fritz (@Fritz) 1. September 2014 um 10:53 am

    Bismarck meinte, der Superlativ sei zu vermeiden, weil er automatisch Widerspruch provoziert. Da liegt tatsächlich der Haken, der zur Selbstversenkung der Superlativ-Rhetorik führt, ganz in dem Sinne dieser Maxime, die den Superlativ unter den Generalverdacht einer unredlichen Absicht stellt. Der „wichtigste Roman in diesem Bücherherbst“ (wird demnächst irgendjemand schreiben) hat eben deshalb paradoxerweise geringe Überzeugungskraft, nur einen gewissen Aufmerksamkeitswert – „muss ja interessant sein“. Aber wer so schreibt, setzt sich dem Risiko der Lächerlichkeit aus.
    Für verhängnisvoller halte ich übrigens die versteckten Superlative und die sind viel häufiger. Gerade gestern stolperte ich irgendwo über das Wort „unerträglichste“ – schon das Wort „unerträglich“ hat ja einen Stich ins Superlativische. Die Steigerung fügt dem gemeinten Sachverhalt nichts hinzu, außer auszudrücken, dass der Sprecher das Wort „unerträglich“ noch über seine Bedeutung hinaus betonen wollte.
    Übertreibungswörter sind zahlreich und unglückseligerweise empfinden viele naive Leser immer Freude, wenn Texte in die Kiste mit den Extremwörtern greifen. Vielfach wird ja sogar geraten, die „kräftigen“ Worte zu bevorzugen. Fürs Gelesenwerden ist das gut, fürs Denken regelmäßig schlecht, weil einerseits unpräzise, andererseits „berauschend“.
    Immerhin haben die offenen und versteckten Superlative eins für sich – man erkennt daran die schwachen Stilisten und findet dort immer einen Hebel, um Widerspruch anzusetzen, wenn einem gerade danach ist.

    • metepsilonema 1. September 2014 um 6:18 pm

      Widerspruch ist an und für sich notwendig; der durch den Superlativ provozierte aber in den meisten Fällen wertlos, redundant oder „vergeudet“ (man könnte Zeit und Kraft produktiver verwenden).

      Das Wort „unerträglich“ kann man m.E. kaum mehr verwenden; es dient meist dem argumentbefreiten Moralisieren, so als ob ein subjektiver Gefühlszustand eine valide Begründung wäre.

      Leider, und ich schließe mich da selbst nicht aus, sind Superlative und Übertreibungen immer noch gute Blickfänger (wobei man immer an Sache oder Thema messen sollte): Man klickt auf den Link, obwohl man es eigentlich besser weiß … für mich werden Empfehlungen immer wichtiger: Wenn ich weiß, wer das tut, dann werde ich selten enttäuscht.

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