Schlagwort-Archiv: Ästhetik

Aphorismen, Notate und Uneinsichtigkeiten IV

Nie ist die Existenz dramatischer als in unserer Kindheit, und nie bewusster als im Alter; dazwischen liegen ein Abschnitt geschäftsmäßiger Vergessenheit und die gnadenvolle Unbekümmertheit der Jugend. Verglichen mit der Kindheit, tritt im Alter die Existenz vor dem absehbaren Ende, gleichsam von der anderen Seite her, ins Bewusstsein: Während das Kind stets darum kämpft, mit den Intensitäten, die ihm die Welt auferlegt und die es durchdringen und durchjagen, zurechtzukommen, also Stabilität zu erlangen, ist das Alter von der Leere, einem Übermaß an Stabilität, einem Mangel lebenslohnender Intensität, vielleicht einem Erschöpfen der Sinne, bedroht. Das Flehen endlich sterben zu können, als Betagter aber nicht chronisch Kranker, ist ernst zu nehmen und zeigt, dass ein Leben trotz hinreichender Funktionalität, an sein Ende kommen kann.

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Spazieren und sehen

Als ob die Welt sich selbst, auf eine andere hin, überschritten hätte: Das fahle, gelb-orange Licht des hereinbrechenden Abends hatte sich dergestalt über die Dinge gelegt, dass sie mir als ein Anderes, als ein Näheres erschienen, als sie es sonst taten; die Gegenstände meines Wohnzimmers übten ein sanfte Anziehung aus, der ich nur selten gewahr wurde, eine Anziehung, die sie hervortreten ließ, deutlich, aber nicht übermächtig, so dass man ihnen hätte verfallen müssen: Dies war keineswegs auf einige der Einrichtungsstücke beschränkt, es lag nicht in deren Geschichtlichkeit oder deren Besonderheiten begründet, es waren unterschiedslos und gleichermaßen alle Dinge von den Veränderungen betroffen, man könnte auch sagen, dass die Gewichtung, die im Normalfall in meinem Inneren lag, nach außen hin verschoben worden war, nicht das Subjekt, also ich, sah in die Welt hinaus, sondern die Welt blickte, auch wenn es aberwitzig klingen mag, zu mir herein, auf eine Weise, die eine Ausgeglichenheit erzeugte und keine Wünsche offen ließ, außer eben jenem, hinauszugehen, mitten unter die Dinge und in die Natur hinein. Weiter auf Begleitschreiben.

Leben und Inszenierung

Man unterhält sich über das inszenierte, als wäre es das eigentliche, das eigene Leben, als gäbe es keinen Unterschied zwischen dem was ist und dem das nur so tut als ob und ich sitze als Chronist, als was auch immer, mitten drinnen: Manchmal sind die Gespräche über die Arbeit, den Job, also das, von dem man sagt: Jetzt sind wir schon wieder dort, wir sprechen schon wieder von der Arbeit, reden wir doch über etwas anderes!, ehrlicher. Ehrlich darin, dass sie sich auf das Peinigende, das handfest Erlebte, beziehen, dem man in der geselligen Runde gerne die Präsenz verweigern möchte, auf das man ohnehin jederzeit und sofort zu sprechen kommen kann.

Beobachtung

Dass sich etwas zeigt und wie es sich zeigt, spricht bereits dagegen es Beobachtung zu nennen, weil es beinahe übergroß in den Beobachter hinein tritt: Umgebung, Dinge, Lebewesen, Menschen und keinesfalls rein visuell. Es passiert, die objektive Bestimmung der Beobachtung ist aufgegeben, besser: aufgehoben, wie die Bestimmung, dass der Beobachter für das Gelingen seiner Beobachtung verantwortlich ist. Man kann es auch als Verselbstständigung des Äußeren, von Teilen des Äußeren, bezeichnen, und je fremder man ihnen ist, je weniger man sie in ihrer Gesamtheit einzuschätzen vermag, also Einschätzungen und ein Verständnis nicht existieren, umso leichter und unmittelbarer gelingt es. Ist man befangen, kennt man das, was man mit seinen Sinnen berührt, ja ist man es gewohnt, dann verweigert es sich, gleichsam. — Passivität ist eine Voraussetzung, eine Art sinnliche Aufnahmebereitschaft, ebenso eine innere Gelöstheit, Leichtigkeit und Neugierde: Ein zweiter Modus des Sehens, der Wahrnehmung insgesamt, Empfindung in dem was sich zeigt, der sich nicht gut steuern lässt, aber unentbehrlich für die Vorstellungskräfte ist.

Angst des Beobachters

Dass ihn also einer spiegelt, so wie es ihm selbst immer wieder gelingt, und einige Augenblicke lang, bis auf den Grund seiner Seele sieht.

Interesselosigkeit…

…möchte man auch für die Wahrheit veranschlagen, Wohlgefallen hingegen nicht.

Vermessenheit I:

Im Augenblick seines Offenbarwerdens, das Schöne auch noch verstehen zu wollen.

Herbst:

Schönheit noch im Verfall, gerade im Verfall; Schönheit in der Wahrnehmung der Verfallenden; Schönheit eingedenk des Verfalls.

Gäbe es einen Schöpfer,…

…man müsste ihm die Schönheit der Welt als Zynismus auslegen; so aber kann man sie als Labsal nehmen, sie zu vermehren suchen und sich in Dankbarkeit üben.

Sprache

Jedes Zeichen ist Klang.