Aufgegriffen: Calling all Polling Stations.

Eine Replik auf willyams Beitrag. Oder eher: Einige lose verwobene Gedanken.

Wen wählen? In der Tat, man stößt immer wieder auf diese Frage. Auch neulich in einigen Gesprächen. In Teilen ist das mit Sicherheit eine Vermeidungsstrategie. Will man sich nicht mit Parteien und Programmen auseinandersetzen, schiebt man sie zur Seite: Kann man doch alle nicht wählen. Aber: Auch viele die die Auseinandersetzung nicht scheuen, und wählen gehen wollen, „können“ es nicht. Das führt mich zur Frage warum man überhaupt Politiker wird. Meine (naive) Annahme ist folgende: Weil man sich engagieren, etwas verändern und bewegen will. Setzen wir das zumindest bei einem Teil der Jungpolitiker voraus, ergibt sich eine weitere Frage: Wie kommt eine Parteienlandschaft (mit zugehörigen Politikern) zustande, die es nicht schafft politisch Interessierte zu „binden“. Liegt hier ein Systemfehler vor? Oder bringt das die Funktionsweise von Politik (quasi automatisch) mit sich? Man darf nicht vergessen, Politik findet in einem Interessensgeflecht statt, und sie muss eine Art Ausgleich finden. Schafft man das nicht, ist man mit Widerständen konfrontiert, und im schlimmsten Fall schnell der Bildfläche verschwunden. Zum anderen ist es natürlich Aufgabe von Politikern „Macht“ (in Form von Wählerstimmen) zu konzentrieren, um Veränderungen vornehmen zu können. Und noch eine dritte Möglichkeit: Wenn schon kein grundsätzlicher Automatismus vorliegt, also Politik notwendiger Weise sein muss wie sie ist, kann es doch sein, dass sich bestimmte Modalitäten ändern (weil technische, mediale, oder gesellschaftliche Entwicklungen das begünstigen), und Politik fortan anders gestaltet wird. Die zu Grunde liegenden Regeln bleiben gleich, es ändern sich Strategie, Verhalten, Kommunikation, Selbstdarstellung, etc. Das betrifft selbstverständlich nicht nur Politiker, sondern auch die Wähler selbst (Stichwort: Postdemokratie).

Nichtwähler. Jedenfalls begegne ich der Frage wen man wählen könne ungleich häufiger, als der Überzeugung, dass ohnehin klar sei wem man seine Stimme gibt. Man sucht entweder die größte Übereinstimmung bzw. den geringsten Dissens. Das ist eine Möglichkeit, aber sie ist nicht endlos strapazierfähig: Zu viel Dissens will man nicht mittragen, und jeder setzt andere thematische Schwerpunkte, die er besonders gewichtet, und die seine Entscheidung maßgeblich beeinflussen werden. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass all diese Schlüsse (ich meine im speziellen die von willyam thematisierte Problematik), Schlüsse von einem persönlich-sozialen Umfeld auf die Grundgesamtheit der Wähler sind. Darf man das? Wohl eher nicht. Folglich bleibt fraglich, ob es überhaupt eine bedeutende Menge an Menschen gibt, die ähnlich denkt (politisch interessiert, aber von der Parteienlandschaft enttäuscht), und ob die Möglichkeit eine demokratische Schrecksekunde zu verursachen überhaupt breitere Unterstützung erhielte. Stellt sich die Situation also tatsächlich dar, wie man auf Grund seiner begrenzten Erfahrung glaubt? Ist die Frage nach dem zusätzlichen Kreuzchen nicht eine unzulässige Extrapolation persönlicher Anschauung? Empirische Untersuchungen könnten hier Licht ins Dunkel bringen. Endlich: Warum kann man sich im Lager der Nichtwähler wiederfinden? Folgende Möglichkeiten: a) Man besitzt (oder meint das zumindest) grundsätzlich kein politisches Interesse oder Verständnis; b) man glaubt nicht an die Möglichkeit etwas verändern zu können, und hält die Stimme des einzelnen für bedeutungslos; c) Enttäuschung der politischen Klasse gegenüber (der Unterschied zu b) ist, dass man das System selbst für funktionstüchtig hält, und auch seine Möglichkeit der Mitbestimmung für gegeben, aber die politischen Akteure scheinen nicht mehr zur Umsetzung vernünftiger Politik befähigt, und sieht sich vor einen Widerspruch gestellt); d) Man präferiert andere politische Systeme. e) Wichtigere Dinge halten vom Urnengang ab (in Zeiten der Briefwahl ein nur bedingt gültiges Argument).

Die demokratische Schrecksekunde. Führt sie nicht dazu, dass genau jener ausgetrampelte Pfand weiter beschritten wird, den man so gern verlassen sähe? Wird die Reaktion der (Volks)Parteien nicht darin bestehen, noch breiter und unschärfer zu werden, wenn der Wähler seine Enttäuschung derart kund tut? Entstehen auf diese Art und Weise tatsächlich neue Entwürfe? Oder nicht eher „more of the same“? Und sollte nicht der hohe Nichtwähleranteil einen ähnlichen Effekt besitzen, und können wir nicht genau das beobachten? Geht man – als Partei – nicht ein hohes Risiko ein, in Zeiten von geringem Interesse, ein (zu) klares Profil zu gewinnen? Was das mögliche zusätzliche Kreuz aber zeigen könnte: Wie viele Wähler ihre Möglichkeit der Mitbestimmung ernst nehmen, aber von den politische Strukturen und Vertretern enttäuscht sind, denn jemand der grundsätzlich nicht wählen geht, wird sich auch von dieser zusätzlichen Möglichkeit nicht in die Wahlzelle locken lassen.

Selbst politisch tätig werden. Ist der Ton einmal angeschlagen, dann kann eine Konsequenz lauten, selbst zu handeln. Man möchte es besser machen. Das kann parteipolitisches Engagement bedeuten, muss es aber nicht, sondern auch: Diskussion entfachen, Plattformen bilden, journalistisch tätig werden, und das alles nicht zuletzt auch hier im virtuellen Raum.

Was können wir erwarten? Ein erstaunlich kurzer Schlusspunkt: a) Von Politikern persönliche Integrität und b) von Parteien den Versuch eine klare Programmatik umzusetzen (das was ich Keuschnig’sches Ideal nennen möchte).

48 Antworten zu “Aufgegriffen: Calling all Polling Stations.

  1. mojamalarevolucja 30. März 2009 um 6:44 am

    Was können wir erwarten?
    Persönliche Integrität? Klare Programmatik? Ich würde sagen, das sollten wir verlangen. Erwarten sollten wir – wie bei jedem anderen Ideal, dass unsere Ideale scheitern.

  2. metepsilonema 30. März 2009 um 9:33 am

    Aber das „wie“ des Scheiterns kann völlig unterschiedlich aussehen, und darauf kommt es an.

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  4. Gregor Keuschnig 4. April 2009 um 9:08 pm

    Der Ausdruck der „demokratischen Schrecksekunde“ gefällt mir einerseits – andererseits macht er mir Angst. Viele werden diese Schrecksekunde versuchen durch „Protestwahl“ zu erzeugen, d. h. eine radikale, evtl. tabuisierte Partei zu wählen um aufzurütteln. Willyams Nichtwähleridee will dem (unter anderem) wohl vorbauen, da Protestwahlen auf Dauer frustrierend sind. Das Zählen von Nichtwählerstimmen wäre es aber auch.

    Ich war vergangene Woche geschäftlich unterwegs und hatte u. a. mit einer Französin gesprochen. Sie erwähnte, dass man in Frankreich einen leeren Stimmzettel abgeben könnte, der dann auch entsprechend gezählt würde. Leider konnte ich das nicht vertiefen; ein schnelles Googeln brachte auch nichts. Weiss einer mehr dazu?

  5. metepsilonema 4. April 2009 um 11:41 pm

    Nein, leider, aber ich kenne einen Franzosen den ich bei Gelegenheit fragen kann.

    Letztlich ist der leere Stimmzettel ein noch allgemeinerer Protest – man signalisiert, dass es nicht einmal eine Partei gibt, die es wert wäre sie aus Gründen des Protests zu wählen. Nur: Ich bin mir nicht klar darüber, wie man als Vorsitzender z.B. einer Volkspartei reagieren würde (gesetzt der Fall es würden genügend leere Stimmzettel abgegeben).

  6. willyam 9. April 2009 um 4:10 pm

    Ich will (endlich) mal willkürlich herausgreifen: Ich glaube da an keinen systemimmanenten Automatismus der Politik. Dass es die Aufgabe eines Abgeordneten ist, “Macht” (in Form von Wählerstimmen) zu konzentrieren … unbestritten! Was mich nur plagt, ohne dass ich es ausführlicher belegen kann (vielleicht nur der Zeitgeist?), ist der Eindruck, dass sich auf den Fluren, auf denen sich eigentlich des Volkes Macht ballen sollte, die Konkurrenz durch andere Interessenmächte zu groß, ehrlicher vielleicht: zu undurchsichtig geworden ist.

    Daher ja mein Antrag auf Hinterfragung der Modalitäten, ganz in dem Sinne, den Du formulierst: Die zu Grunde liegenden Regeln bleiben gleich, es ändern sich Strategie, Verhalten, Kommunikation, Selbstdarstellung, etc. Das die Richtung, in die ich mit dem Begriff der „demokratischen Schrecksekunde“ denke. Es geht mir ausdrücklich nicht darum, zur Wahl radikaler Parteien aufzurufen – obwohl man den Missbrauch, wie Georg warnt, einrechnen muss. In der Diskussion mit Mark hab‘ ich’s so festgehalten: Wie mit aller demokratischer Meinungsäußerung ist es mit einem schlichten Kreuz alle vier Jahre nicht getan. Daher ja mein naiver Gedanke, das Keine-Partei-Wählen könnte wie ein Aggregator wirken, wüsste das Volk erst einmal, wieviele unzufrieden sind …

  7. metepsilonema 11. April 2009 um 10:02 pm

    Kurzantwort als Frage (später hoffentlich mehr): Weiß das Volk nicht sehr gut wieviele unzufrieden sind? Oder ist das nicht fast demokratischer Konsens? Wer schimpft denn nicht über Politiker und Parteien…

  8. willyam 12. April 2009 um 4:10 pm

    Angemessener wäre es, meinst Du nicht, von einer Ahnung, wie viele unzufrieden sind, zu sprechen. Wir versuchen eine Schätzung, reden über ein Bauchgefühl. Mehr nicht. Und in diesem doch sehr wichtigen, zentralen Fall würde ich doch ganz gerne Gewissheit haben, weil der Schreck eventuell frisches gesellschaftsgestalterisches Potenzial freisetzt.

  9. metepsilonema 13. April 2009 um 11:14 pm

    Ja, Gewissheit. Aber ist die auf diesem Weg tatsächlich zu bekommen? Wie unterscheidest Du ob der Stimmzettel aus verzweifelter Besorgnis oder grundsätzlichem Ressentiment leer bleibt? Oder ist Dir das zunächst egal?

    Lädt die Konzentration von Macht in Form von Wählerstimmen nicht dazu ein den einfachen Weg zu gehen, zu werben in dem man sagt was gerne gehört wird? Das ist zwar nicht determiniert, aber doch irgendwie systemimmanent.

    Mir scheint Du bringst jetzt einen weiteren Aspekt ein (Konkurrenz durch andere Interessensmächte) oder war der schon immer mit Deiner Parteienunzufriedenheit verknüpft?

  10. Gregor Keuschnig 14. April 2009 um 4:41 pm

    Liest man diese Diskussion hier wird deutlich: Der Stimmzettel ist viel zu einfach konzipiert! Man gibt einfach eine Stimme für eine Liste ab und das sind 100%. In Form einer Abwägung (wir hatten das Thema). Vielleicht will man aber den Kandidaten X nur zu 70%. Und was mit den restlichen 30%?

    Es ist ja nicht so, als würde mit den Wahlsystemen nicht experimentiert. Auf Kommunalebene (wenn es um reine Personenwahlen geht) kann man in Deutschland schon panaschieren oder kumulieren; teilweise ist das schon arg kompliziert geworden. Die meisten Leute können aus dem Stand noch nicht einmal ohne Taschenrechner 20% von 340 ausrechnen.

    DER Indikator für die „Zufriedenheit“ der Bürger mit dem politischen System bleibt die Wahlbeteiligung. Sinkt diese, zeigt dies unmissverständlich (aber ungenau, weil nicht en détail) an, dass man mit den Alternativen unzufrieden ist. Dies im Wahlakt zu demonstrieren, wobei diese Unzufriedenenstimmen bei jeder Stimmenauszählung im Parlament quasi automatisch als Gegenstimmen gewertet werden, würde das System (und den Durchschnittswähler ebenfalls) überfordern.

    Ich gebe allerdings zu, dass die Stellungnahme der Unzufriedenheit durch ein blosses Ignorieren der Wahl ein bisschen zu einfach sein könnte. Was für Wahlpflicht sprechen könnte.

  11. mojamalarevolucja 16. April 2009 um 2:44 pm

    Ich finde nicht, dass Wahlbeteiligung als Indikator für Zufriedenheit gesehen werden kann, bzw. vielleicht sehe ich denk Punkt nicht. Zufriedenheit lässt sich durch konkrete Umfragen indizieren, nicht durch ein Verhalten, das undurchsichtiger kaum sein könnte.
    Nicht zur Wahl zu gehen kann alles bedeuten von Frustration bis hin zu Bedenkenlosigkeit, wobei letzteres auf das Fehlen von Zielen deutet und somit einem Verharren im Status quo. Nicht alle sind gleichzeitig desinteressiert/gelangweilt und frustriert. Ob die Resignation der geringen Wahlbeteiligung ein Protest gegen das System oder einfach Ausdruck fehlender Akzeptanz der eigenen Unbedeutung ist lässt sich nicht sagen. Auch ungültige Wahlzettel geben lediglichein stärkeres Protestindiz, da wir keine Kenntnis darüber haben, ob sie bewusst und nicht fälschlicherweise abgegeben werden. Aber ganz im Ernst: Kann man das von den gültigen Stimmen nicht letztlich genauso sagen?

    Übrigens: Auch in Deutschland kann man einen leeren Wahlzettel einfach so abgeben und damit ungültig wählen.

    Und noch ein kleiner Vorschlag: Das von w. vorgeschlagene Kreuz ließe sich ohne größere rechtliche Komplikationen einführen, indem man „einfach“ eine Partei mit einem entsprechenden Programm gründen würde. Entsprechende Ansätze dahingehend gab es bereits.

  12. metepsilonema 16. April 2009 um 11:52 pm

    Ja, aber die ungültigen Wahlzettel werden in Deutschland nicht separat gezählt (oder?).

    Eine grobe Abschätzung scheint mir schon möglich: Jemand der sich mit dem politischen System identifiziert, politisch interessiert ist, es für wichtig hält oder es als als Plicht ansieht, warum sollte derjenige nicht wählen gehen?

    Entsprechende Ansätze dahingehend gab es bereits.

    Ich kann mich an ÖH-Wahlen (österreichische Hochschülerschaft) erinnern, bei denen Scherzkandidaten (-„parteien“) erstaunlichen Zuspruch erhielten (an den sie selbst nicht geglaubt hatten).

  13. mojamalarevolucja 17. April 2009 um 1:20 pm

    Sicher, die Nichtwähler identifizieren sich nicht derart mit dem politischen System, dass sie es als ihre Pflicht sehen, zur Wahl zu gehen. Sie halten es (mal die Ausgenommen, die tatsächlich verhindert sind oder verhindert zu sein glauben [sprich die, die Briefwahlen nicht kennen]) für nicht notwendig zur Wahl zu gehen. Das ist alles was wir wissen. Das kann wie gesagt Protest sein, Frustration, es kann aber auch sein, weil die betreffende Person die eigene Stimme für zu unwichtig hält, als dass es sich lohnen würde kurz zum Wahlbüro zu gehen. Wer mit dem Status quo schon immer gut gelebt hat ohne eine Stimme abzugeben, die eigentlich nicht wirklich irgendetwas ändert: Wieso sollte diese Person auf einmal anfangen sich über die aktuellen politischen Zusammenhänge zu informieren (das kostet schließlich alles Zeit). Es sind nicht wenige, die sagen, dass es ihnen egal ist, wer regiert, das ist meines Erachtens zwar keine Bestätigung des Systems und dennoch ist es eine Befürwortung des Zustandes. So schlummert ein Potenzial all derer, die zwar nicht wirklich zufrieden, aber eben auch nicht wirklich unzufrieden sind. Die Wahlbeteiligung in Polen ist seit den ersten freien Parlamentswahlen 1991 stetig zurückgegangen und sank bis zu den vorletzten Wahlen unter die 50% Marke, genauergesagt 40% (das waren die Wahlen in denen die PiS, die Samoobrona und die Liga Polskich Rodzin eine rechtskonservative Regierung bildeten). In den Wahlen 2007 stieg die Wahlbeteiligung dann schlagartig um ~14%. Ich denke, dass man mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass die politischen Mobilisierung vor allem auf die radikalen Politik insbesondere der LPR und der Samoobrona zurückzuführen war.
    Man muss sich fragen, warum es auf einmal mehr als 14% der Wahlberechtigten für nötig hielten zur Wahl zu gehen. Grund genug, über die Politik der Regierung von 2005/6 enttäuscht zu sein, hatten sie. In den Analysen von 2005 hieß es oftmals, dass die Wahlbeteiligung so gering gewesen sei, weil man von einem sicheren Sieg der PO ausgegangen war. Die Zufriedenheit mit Jaroslaw Kaczynski als Premier hätte geringer nicht sein können. Hier grreift meines Erachtens eindeutig der Spruch „Das Volk bekommt die Regierung, die es verdient“, und dessen war sich offensichtlich ein gar nicht so kleiner Teil der Bevölkerung bewusst. Natürlich kann man bei 54% noch nicht von einer guten Wahlbeteiligung sprechen, aber meines Wissens ist es der erste Anstieg der Wahlbeteiligung in der Dritten Republik überhaupt, und zudem ein durchaus erheblicher.

    Die ungültigen Wahlzettel in Deutsachland werden (wie – soweit ich weiß – jedem EU-Land) separat gezählt. Habe kurz eine Statistik herausgesucht, an der sich nachvollziehen lässt, dass ungültig wählen nicht wirklich viele Stimmen auf sich vereint. Auch hier greift wohl das Phänomen, dass man überzeugt vom System sein muss, um zur (ungültig-)Wahl zu gehen, denn auch hier gilt, dass eine Stimme eben nur etwa 1/60000000 zählt (bzw. mehr, je nachdem wieviele effektiv wählen). Das ist nicht einfach, aber eben eine der wichtigsten Grundvoraussetzung für die deutsche Demokratie.

    Es gab in Deutschland mal die „Partei der Nichtwähler“, scheiterte meines Wissens, weil das Klientel eben vor allem eines macht: Nicht zur Wahl gehen.

  14. metepsilonema 17. April 2009 um 3:42 pm

    @Gregor

    Es war in Frankreich (offensichtlich bis ins Jahr 2008) möglich folgendermaßen zu wählen:

    a) ungültig (der Wahlzettel darf nicht beschrieben, und nicht öfter als 4x gefaltet werden [in Frankreich gibt es für jede Partei einen eigenen Wahlzettel]; ich weiß, dass das seltsam klingt, ich gebe nur wieder, was ich gehört habe)

    b) weiß, d.i. ein leer abgegebener Stimmzettel (man musste den leeren Zettel selbst zur Wahl mitbringen und vor einer Wahl durften keine weißen Zettel verteilt werden)

    c) gültig

    Aufgrund des französischen Wahlsystems (eine Partei/ein Kandidat muss die absolute Mehrheit erlangen) und der separaten Zählung der weißen Zettel, kann es theoretisch sein, dass keine Partei eine absolute Mehrheit erlangt. Das wäre in der Tat etwas wie die Möglichkeit allgemeine Unzufriedenheit kund zu tun.

    [Ich kann leider keine Garantie dafür, dass das 100%ig richtig ist; ich habe einige Informationen von meinem Bekannten und einer Kollegin die Französisch spricht; der Rest entstammt gemeinsamen Überlegungen]

  15. Gregor Keuschnig 17. April 2009 um 5:01 pm

    Ich hatte ja geschrieben, dass die Wahlbeteiligung ein ungenauer Faktor ist, weil er nicht zwischen bewusster Enthaltung und Trägheit oder Uninformiertheit Auskunft gibt. Dies war aber immer so, so dass ein verstärkter Trend zur Nichtwahl schon etwas über den Grad der Unzufriedenheit Ausdruck gibt. Man darf nicht vergessen, dass medial bspw. eine Bundestagswahl sehr fokussiert wird und eine Desinformation über das Ereignis eigentlich ausgeschlossen ist.

    Wahlbeteiligungen steigen immer dann, wenn es einen zugespitzten Wahlkampf gab und eine „Richtungsentscheidung“ vermutet bzw. suggeriert wird und/oder eine „Abwahl“ ansteht (1998 bspw). Demzufolge ist m. E. abzusehen, dass die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl im September vermutlich stark zurückgehen wird (falls nicht etwas Unvorhersehbares passiert). Grosse Koalitionen sind übrigens Garanten für niedrige Wahlbeteiligungen, da die einzelne Stimme für den Bürger noch weniger Wert erscheint (es gab 2005 ein sehr knappes Resultat bei der BTW; wenige tausend Stimmen hatten entschieden).

    @metepsilonema
    Danke für Deine Recherche; klingt reichlich kompliziert, wäre aber in willyams Sinn (wenn ich böse wäre, würde ich sagen: bringt dann Figuren wie Sarkozy an die Macht, aber das stimmt natürlich nicht).

  16. willyam 17. April 2009 um 10:49 pm

    Wahlbeteiligungen sind in der Tat ein Rätsel. Ihre Interpretation hängt wohl maßgeblich davon ab, in welchem demokratietheoretischen Lager man sich verortet. Den Befürworter der Direktdemokratie wird eine geringere Beteiligung frustrieren, während elitengläubige Bürger es in gewissem Sinne für „unnötig“ halten, einem System, dem sie im Großen und Ganzen vertrauen, eine unmittelbare Richtung zu geben, weil „die da oben“ ohnehin alles im rechten Sinn regeln; sie tendieren im Prinzip in die Richtung, die „zwar keine Bestätigung des Systems und dennoch […] eine Befürwortung des Zustandes“ signalisiert. Das ist, natürlich mehr als grob gefasst, das Denkspektrum, wenn man voraussetzt, dass eine grundsätzliche Zustimmung zum System besteht – und in dem sich vermutlich die Mehrheit aller Wähler recht wohlfühlt.

    Ob das allerdings, angeregt durch die derzeitige Krise, umschlagen kann? Auch wenn es formal wohl keine politische Richtungsentscheidung geben wird, weil die Parteien mit ihren Krisenrezepten ohnehin nur an derselben Suppe kochen, interpretiere ich den Zuspruch, den die FDP derzeit erfährt, als ein Signal einer wenn auch nur recht uneindeutigen, unartikulierten Unzufriedenhei: Man will für die Krise nicht zahlen, aber seriöse Regulierungen, die über die Deckelung von Managergehältern hinausgehen, traut man sich nicht auszusprechen. Irgendwie soll alles anders bleiben. Dazu kommt vermutlich eine unausgesprochene, aber irgendwo doch stark mitgedachte und einflussreiche Angst vor einem Aufschwung reaktionärer Lager. Und deswegen hoffe ich, ehrlich gesagt, auf eine hohe Wahlbeteiligung (auch wenn sie sich allen Prognosen nach nicht in meinem Sinne auswirken wird … ;-)).

  17. Gregor Keuschnig 18. April 2009 um 11:02 am

    Irgendwie soll alles anders bleiben.
    Treffender könnte man es kaum ausdrücken. Der demoskropische Erfolg der FDP muss (wird!) micht von Dauer sein, zeigt aber die Hilf- und Rezeptlosigkeit auch des Wählers an: Wie verzweifelt muss man sein, einer Partei, in der sich Gestalten wie Westerwelle, Solms, Niebel und Brüderle aufhalten ausgerechnet in dieser Situation eine grössere Kompetenz zuzusprechen? Und, natürlich: Mir sind obige Figuren immer noch deutlich lieber als die rechts- wie linksextremistischen Radikalvereinfacher, wenn gleich ein Unterschied gelegentlich schwer auszumachen scheint.

    Das reaktionäre Lager (Du verortest es vermutlich bei CDU/CSU) dürfte unter einer Kanzlerin Merkel wenig zu sagen bekommen. Darum steht und fällt alles mit ihrem Erfolg. Bekommt Merkel wieder nur 35% oder gar weniger dürften ihre Tage zu Gunsten der Kochs und Seehofers (den ich als rückgratlosen Populisten ebenfalls als „reaktionär“ bezeichnen würde) innerparteilich gezählt sein.

  18. metepsilonema 19. April 2009 um 5:40 pm

    Mit nicht separat gezählt meinte ich oben „nicht extra aufgelistet“, da sie natürlich gezählt werden müssen, um ein korrektes Ergebnis zu erhalten (was aber auch für Österreich nicht richtig ist; wahrscheinlich einfach ein Wahrnehmungsproblem meinerseits, da ich den ungültigen Stimmen bisher nicht all zuviel Beachtung geschenkt habe).

  19. metepsilonema 19. April 2009 um 5:49 pm

    Kann es sein, dass der Zuspruch den die FDP erhält, sich aus der Konsequenz ihrer Haltung schöpft: Für viele Sozialisten ist die SPD nicht mehr sozial, und viele Konservative habe mit Merkel ihre Probleme (umwelt- oder wirtschaftspolitisch). Die FDP hingegen bleibt bei ihren Leisten, sie ist in diesem Sinn geradlinig (etwas das ich mir prinzipiell von einer Partei wünsche). Zollt man dem Respekt?

  20. willyam 19. April 2009 um 9:56 pm

    Was Deine letzte Frage anbelangt, metepsilonema: Ich glaube, der Zuspruch hat wenig, sogar äußerst wenig mit Konsequenz zu tun. Mann muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Da erlebt die Partei einen Aufschwung, die wie bislang nach wie vor denjenigen, die den Finanzkarren gerade in den Sand gesetzt haben, politisch den Rücken stärkt. Paradoxer kann man seinen Willen kaum zum Ausdruck verhelfen. Oder ich übersehe – und mißverstehe damit – etwas Grundlegendes.

  21. metepsilonema 19. April 2009 um 10:15 pm

    Die FDP könnte auch – wie die CDU im letzten Wahlkampf – eine Kehrtwende machen, und (weil es alle tun) „mehr Staat“ fordern. Tut sie aber nicht. Das könnte ihr Stimmen von wirtschaftsliberalen Konservativen einbringen, die mit Merkels Kurs ohnehin unzufrieden sind. Insofern wird sie belohnt, weil sie bei ihren Überzeugungen bleibt (was auch immer man von ihnen hält).

  22. Gregor Keuschnig 20. April 2009 um 11:46 am

    Zur deutschen FDP

    Zunächst einmal: Die „Heuschrecken“, d. h. die Möglichkeit, dass Finanzinvestoren in Deutschland agieren können wie sie inzwischen agieren würde von Rot-Grün geschaffen. Die Rahmenbedingungen für die Finanzwirtschaft einzugrenzen wurde von Rot-Grün UND der Grossen Koalition verschlafen. Das alles geschah ohne Beteiligung der FDP. Insofern steht die FDP mindestens seit 1998 als „straflos“ da.

    In Hessen erreichte die FDP das sehr gute Landtagswahlresultat nur deswegen, weil viele CDU-Wähler immer noch mit Koch unzufrieden waren und ihn abstrafen wollten. Dass danach die FDP im Bund zulegt (von 9-10 auf inzwischen 14-15%) halte ich für ein Strohfeuer. Es speist sich auch aus dem, was Metepsilonema andeutete: für viele CDU-Wähler ist Merkel zu „sozialdemokratisch“; sie sehen in der FDP ein mehr oder weniger komfortables Parkhaus für ihre Zweitstimme. Sobald die CDU jedoch Renovierungsarbeiten an ihrem Konzept vorgenommen hat, dürfte die Attraktivität der FDP wieder abnehmen.

    Für mich ist die Option FDP mit der drastischen Rhetorik gegen das sogenannte Bankenenteignungsgesetz „gestorben“. Hier von Sozialismus zu schwadronieren ist politisch und ökonomisch verantwortungslos. Dazu kommt dann, dass man im Bundesrat das Gesetz doch passieren liess – das ist das Gegenteil von Konsequenz, was nun als Staatsraison „verkauft“ wird (und das zum zweiten Mal; auch das sogenannte „2. Konjunkturpaket“ winkte man durch, obwohl man „offiziell“ dagegen war).

  23. mojamalarevolucja 20. April 2009 um 11:22 pm

    Soweit ich das sehe hat willyam nicht von Verantwortung, sondern von Programmatik gesprochen. Deswegen nutzt es auch niemanden irgendwelche Vorwürfe von vorgestern auszupacken, die heute keinem mehr weiter etwas bringen. Was die Große Koalition, was Rot-Grün alles hätte machen können ist doch vollkommen irrelevant. Die Argumentation kann man umdrehen und auf alle Parteien des Bundestages bis auf die Linken beziehen. Versäumnisse gibt es immer und skurilerweise werden diese immer aus einem gegenwärtigen Blickwinkel betrachtet. Was heute offensichtlich erscheint kann schon morgen unklar sein und was heute unklar ist, kann morgen schon glasklar sein. So ging es wohl auch den Grünen als sie mit den Kosovokrieg einstiegen. Das hätten sie in der Vergangenheit wohl auch nicht von sich gesagt. War das Verlogen? Vielleicht. Vielleicht aber auch eine Anpassung von Handlungslogiken an eine veränderte Realität bzw. – wie es mir persönlich richtiger erscheint – Wahrnehmung.
    Der Erfolg der FDP ist meines Erachtens auf eine geschickte Kommunikation zurückzuführen, denn auch die FDP hat sich den kleinen Mann auf die Fahne geschrieben. Das dieser am Ende einstecken muss, weil Sozialleistungen gekürzt werden, das ist sicherlich nicht allen bewusst. Aber gut, da tun sich die Parteien nicht viel, denn nach wie vor hören es Menschen lieber, dass sie Geld bekommen, als, dass ihnen genommen wird. Womit wir wieder bei dem Volk wären, das die/eine Regierung hat, die es verdient.

  24. willyam 22. April 2009 um 7:55 am

    @ mojamalarevolucja: Sprechen wollte ich – zumindest indirekt, weil es sich aus meiner Kritik ableitet – auch darüber, dass das, was Du als Anpassung von Handlungslogiken an eine veränderte Realität bzw. […] Wahrnehmung identifizierst, in meinen Augen inzwischen mit einer Flexibilität gehandhabt und geübt wird, dass ich abstumpfe. Deine Formulierung könnte man gut und gern auch als Euphemismus verstehen: Weil sie wunderbar deutlich macht, wie nah sich Aufrichtigkeit und Opportunismus in der Politik inzwischen sind. Benutze ein gestandener Parteiabgeordneter vor mir und benutzte Deine Worte: Ich wüsste nicht, ob er ehrlich ist oder mich mit wahltaktischem Geblubber beeindrucken wollte.

  25. Gregor Keuschnig 22. April 2009 um 10:11 am

    @mojamalerevolucja
    Was die Große Koalition, was Rot-Grün alles hätte machen können ist doch vollkommen irrelevant.
    Das findet der „unzufriedene“ Wähler ganz und gar nicht.

    Die Argumentation kann man umdrehen und auf alle Parteien des Bundestages bis auf die Linken beziehen.
    Die Linken waren bisher nicht im Bund in Regierungsverantwortung; Maximalforderungen als Fundamentalopposition ist also noch möglich. Ihre Wählerklientel kann ihnen keine Versäumnisse vorwerfen (ausser vielleicht – wie dies jetzt geschieht – in einer zu „braven“ Programmatik, mit der man in den Wahlkampf gehen will).

    Vielleicht aber auch eine Anpassung von Handlungslogiken an eine veränderte Realität bzw. – wie es mir persönlich richtiger erscheint – Wahrnehmung.
    Besser hätte es kein Parteiapparatschik ausdrücken können, der sich vor Antritt seiner Legislatur das Rückgrat hat operativ entfernen lassen.

    Der Erfolg der FDP ist meines Erachtens auf eine geschickte Kommunikation zurückzuführen, denn auch die FDP hat sich den kleinen Mann auf die Fahne geschrieben.
    Das ist mir neu, wobei ich gerne zugebe, die aktuelle rogrammatik der FDP (liegt sie schon vor?) nicht gelesen zu haben. Die FDP ist eher Klientelpartei des Mittelstands (wogegen nichts einzuwenden ist); der „kleine Mann“ der FDP ist der mittlere Angestellte, der mit € 50.000 Jahresgehalt als Lediger rd. 50% des Einkommens an Steuern und Sozialabgaben zu bezahlen hat. Die FDP tritt dafür ein, dass es nur 40% sein sollen – ohne zu sagen, dass sie die kalte Progression vor 1998 half mit zu implementieren.

    Womit wir wieder bei dem Volk wären, das die/eine Regierung hat, die es verdient.
    Häufig benutztes Bonmot, was nur teilweise stimmt. Die Listenbildung des Verhältniswahlrechts macht es schwierig, Differenzierungen auszudrücken (ich rede von der Bundestagswahl). Entweder ich wähle eine komplette Landesliste der Partei – inklusive Figuren, die ich für politisch obskur halte – oder ich wähle eine andere Liste. Das Problem ist: Ich wähle immer das geringere Übel. Man stelle sich einmal vor, man ginge in ein Restaurant mit der Aussicht, zwischen mehreren nicht wohlschmeckenden Gerichten wählen zu können. Wer betritt dieses restaurant noch? Nur diejenigen, deren Geschmacksnerven irgendwann „trainierT“ wurden…

  26. mojamalarevolucja 22. April 2009 um 11:34 am

    @willyam

    „wie nah sich Aufrichtigkeit und Opportunismus in der Politik inzwischen sind“

    Wieso inzwischen? Weswegen sollte sich da in den letzten Xtausend Jahren etwas geändert haben?

    @Gregor

    Ja, die Programmatik der FDP liegt vor. Jeden Tag für gewöhnlich. Es kommt selten vor, dass in Wahlprogrammen etwas wirklich Revolutionäres geschieht, zumal ich auch nichts davon halte einer Partei lediglich eine Programmatik zuzuordnen. Inhaltliche Revolutionen geschehen meines Erachtens nicht im Wahlkampf, sondern beim Regieren oder Oppositionieren. Politologisch würde ich dir vollkommen zustimmen: Natürlich ist die FDP eine Klientelpartei. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie wo sie nur kann betont, eine Partei für alle zu sein. Aus diesem Grund sprach ich auch von einer geschickten Kommunikation(!).

    Kommunikationstheoretisch ist auch nicht unwichtig, was Rot-Grün alles hätte machen können, ganz im Gegenteil, es ist essenziell. Es ist so essenziell, dass es eigentlich nicht mal eine Rolle spielt, was überhaupt unter Rot-Grün geschehen ist, sondern lediglich das, was die Menschen darüber glauben bzw. wissen (im foucault’schen Sinne). Faktisch ist es nothing but a mindgame. Nicht nur Politik, sondern jegliche Art gesellschaftlicher Kommunikation lebt davon, Glauben zu machen, Inhalte in gewünschtem Zustand von A nach B zu transportieren. Aber grundsätzlich könnte und kann man jeder Partei Versagen vorwerfen. Nur hat das rational gesehen wenig Sinn, insbesondere eingedenk der Tatsache, dass man diese Vorwürfe an Parteien richtet und diese, wie wir alle wissen, alles andere als homogen sind.

    Deine Äußerung zum gebrochenen Rückgrat finde ich positiv ausgedrückt so idealistisch, dass es gleichzeitig naiv ist. Dass Menschen ihre Haltung abhängig von ihrer Situation ändern, hat zunächst einmal nichts mit Opportunismus zu tun. Dass z.B. der Einstieg in den Kosovokrieg für die Grünen alles andere als selbstverständlich war, zeigt sich auch an der grün-internen Debatte. Die einen hielten die Beteiligung für nicht zu rechtfertigen, die anderen rechtfertigten ihn. Für die einen war es Opportunismus, für die anderen logische Konsequenz. So ist das grundsätzlich mit jeder Handlung und es verwundert mich überhaupt nicht, dass aus anderen Verbänden und auch deinerseits eine „Verlogenheit“ proklamiert wird, während diejenigen, die den Krieg für notwendig hielten dagegen hielten. Aber das ist meines Erachtens ein sinnloser Streit, denn ich interessiere mich nicht dafür, ob Bündnis’90/die Grünen angesichts ihrer Vorgeschichte anders hätten handeln sollen (denn ich nehme wie bei jeder anderen Partei keine Kohärenz auf Ewigkeiten an), sondern lediglich dafür, was ich als Wählerin davon halte. Wer ungeachtet aller Umstände blind auf die Ideale von Parteien (oder Menschen) vertraut, lebt gefährlich.

    „Häufig benutztes Bonmot, was nur teilweise stimmt. Die Listenbildung des Verhältniswahlrechts macht es schwierig, Differenzierungen auszudrücken (ich rede von der Bundestagswahl). Entweder ich wähle eine komplette Landesliste der Partei – inklusive Figuren, die ich für politisch obskur halte – oder ich wähle eine andere Liste. Das Problem ist: Ich wähle immer das geringere Übel. Man stelle sich einmal vor, man ginge in ein Restaurant mit der Aussicht, zwischen mehreren nicht wohlschmeckenden Gerichten wählen zu können. Wer betritt dieses restaurant noch? Nur diejenigen, deren Geschmacksnerven irgendwann “trainierT” wurden…“

    Mir ging es nicht – wie du mit dem Restaurantbeispiel veruscht zu veranschaulichen – um konkrete Inhalte, dazu unten mehr.
    Natürlich hast du insgesamt mehr Wahlmöglichkeiten, als du hier nennst. Du kannst in politische Vereinigungen eintreten, du kannst mitdiskutieren, du kannst dich wählen lassen… All das steht innerhalb deiner Möglichkeiten. Nur sagt das nichts über dein Gewicht aus, welches dir scheinbar nicht groß genug ist. Ich sprach bereits auf willyams Blog an, dass ein Großteil der Bundesbürgan scheinbar in dem Bewusstsein lebt, dass es grundsätzlich das Versagen der Politik sei, wenn sie nicht dem entspricht, was man selber möchte. Dabei versteht sich von selbst, dass die Politik nicht das machen kann, was du willst, weil deine Stimme eben nur einen Bruchteil der Entscheidung ausmacht (genannte 1/60000000 Bundestagkilos), der erheblich geringer ist als die Mitentscheidung (per Einkauf) darüber, ob der Supermarkt bei dir um die Ecke weiterexistiert oder nicht.
    Der Vergleich mit dem Restaurant ist sehr passend, denn im Restaurant hast du ebenfalls kaum eine Möglichkeit der Mitentscheidung über die Zusammensetzung der Gerichte und Gänge. Den Punkt, den du zu übersehen scheinst, ist, dass es nur zwei Alternativen zum Essen in geschmacklosen Restaurants gibt: ein neues gründen oder dahin abwandern, wo es gute Restaurants gibt. Ersteres würde voraussetzen, dass du es schaffst mit deinen Vorstellungen Menschen zu mobilisieren, die in deinem Projekt einen wirklichen Unterschied erkenen und dir dann eine bessere Möglichkeit geben, deine Ideale zu realisieren. Das ist möglich, wie man an der Linkspartei gesehen hat, nur ist es eben auch eine sehr große Leistung, die für gewöhnlich als solche überhaupt nicht (an)erkannt wird. Auch deswegen erscheint es mir immer etwas komisch, wenn es heißt „Ich wähle das geringere Übel“, denn das Übel setzt voraus, dass es etwas (erheblich) Besseres gibt, woran ich nicht grundsätzlich zweifle, aber die realen Umstände zeigen, dass es rein demokratisch (zumindest was die Bundesebene anbelangt) überaus schwer ist eine „bessere“ Partei zu organisieren und sich eine Unterstützung zu sichern. Ab dem Zeitpunkt, wo man einem Klientel von 10.000 Wählan verpflichtet ist, lassen sich eben keine Egotrips mehr durchführen. Noch weniger bei 300.000. Und noch viel weniger, wenn man in einer Regierung nicht nur auf parteiexterne, sondern auch -interne Koalitionen angewiesen ist (was bei jeder bundesdeutschen Partei der Fall ist).

    Ich will es nicht so klingen lassen, als ob ich mit allem an der deutschen Demokratie einverstanden wäre, aber das Typische an einer Demokratie (und das ist etwas, das gerne vergessen wird) ist, dass die poltischen Handlungen in einem diffusen Aushandlungsprozess entstehen, an dem die einzelnen Bürgan nur zu sehr geringen Teilen (~ 1.6666666666666667e-8) beteiligt sind, sofern sie ausschließlich wählen gehen.
    Wenn ich sage, dass das Volk nur die Regierung bekommt die es verdient, dann beziehe ich das zudem gar nicht so sehr auf die Programmatik, sondern auf die generelle Verhaltensweise. Wenn ein Großteil der Bevölkerung sich immer wieder von tollen Versprechen einlullen lässt und Parteien/Politiker/gesellschaftliche Aktionisten abstraft, die unliebsame Wahrheiten aussprechen abstraft wird sich auch nichts an entsprechenden Verhaltensweise der Politikan handeln, die ja letztlich nur Mehrheiten haben wollen, um ihre eigene Ziele bzw. die der Partei durchzusetzen.
    Dann, nachher, heißt es „die Politiker haben versagt“, und was die konkreten Handlungen anbelangt stimmt das auch, nur betrifft es letztlich auch die, die opportunistisches Verhalten durch ihr Setting von Wahlpräferenzen verursacht oder zumindest provoziert haben. Hier wiederum werden die 1.6666666666666667e-8 zu einer Nullsumme. Schließlich weiß man, wer die Schuldigen sind.
    Wenn sich am Klimawandel nichts ändert, sind es die Politikan, die keine Regelungen durchgeführt, keine Subventionen erlassen, kein XYZ gemacht haben. Ich habe viele Menschen erlebt, die in diese Richtung jammern und trotzdem noch Gas-, Kohle- und Atomstrom von ihrem Anbieter beziehen (obwohl dieser zumeist noch teurer ist!). Gleiches bei vielen anderen Arten des Kaufverhaltens. Argument: „Das macht den Braten auch nicht fett.“ Genau diese Mentalität läd mich zu dem Zynismus ein, dass wir es eben nicht besser verdient haben. Das politische Verhalten eines Großteils der Bundesbürgan ist für mich bereits eine „demokratische Schreckstunde“.

  27. metepsilonema 24. April 2009 um 10:48 pm

    Weswegen sollte sich da in den letzten Xtausend Jahren etwas geändert haben?

    Warum sollte sich nichts geändert haben? Es ist durchaus denkbar, dass sich in einer Informations-, Medien,- und Kommunikationsgesellschaft wie der unsrigen andere Verhaltensweisen entwickeln (weil sie der Maximierung von Wählerstimmen nützen), als etwa im 19. Jahrhundert, oder noch früher.

  28. mojamalarevolucja 25. April 2009 um 10:59 am

    Einen Beleg dafür zu finden dürfte relativ schwer sein. Ich persönlich sehe keinen Grund, weswegen wir gerade jetzt eine Transformation von Aufrichtigkeit hin zu mehr Opportunismus durchleben sollten. Die Frage ist letztlich, welchen Ausdruck sowohl das eine als auch das andere findet. Und dass die Politik der 50er Jahre aufrichtiger und ehrlicher gewesen wäre, nur weil sie medial anders inszeniert war, halte ich für eine äußerst gewagte These. Ja, die Inszenierung von Politik hat sich verändert. Die Bürgan haben einen erheblich stärkeren medialen Kontakt zu ihren Politikan, sie erhalten mehr Informtionen und sie fordern Rechtfertigungen auf mehr Kommunikationskanälen ein. Der Opportunismus entsteht meines Erachtens nicht, er entwickelt sich durch neue Möglichkeiten. Weswegen genau sollte sich ein qualitativer Wandel vollziehen? Ich sehe höchstens einen quantitativen Wandel in Abhängigkeit zur Hysterie der Situation.

    • metepsilonema 26. April 2009 um 10:19 pm

      Ich persönlich sehe keinen Grund, weswegen wir gerade jetzt eine Transformation von Aufrichtigkeit hin zu mehr Opportunismus durchleben sollten. Das habe ich auch nicht behauptet, und ich habe auch nicht von den 50iger Jahren gesprochen, ich halte es aber für ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die vielfältigen technischen Entwicklungen alles beim Alten belassen haben (Weswegen sollte sich da in den letzten Xtausend Jahren etwas geändert haben?). Ein Beispiel: Die Möglichkeit über weite Entfernungen quasi ohne Zeitverlust zu kommunizieren, hat die Kultur des Briefschreibens wie sie in früheren Jahrhunderten praktiziert wurde komplett verändert bzw. obsolet gemacht.

      Dass es früher auch Opportunismus gab, wird niemand abstreiten, und folglich ist er kein Produkt von Technik und Medien. Aber er entwickelt sich mit ihnen – sie fordern ihn heraus -, und das ist etwas das man Veränderung nennen kann.

      • mojamalarevolucja 28. April 2009 um 6:30 am

        Gut, da sind wir wieder bei einem Punkt der sich nicht weiter diskutieren lässt. Ich finde den Vergleich Kommunikation vs. Wesenseigenschaft nicht schlüssig und sehe lediglich eine neue Art der Darstellung (nämlich eine um vieles pluralistischere). Du siehst einen qualitativen Wandel. Dabei belassen wir es dann wohl.

      • metepsilonema 29. April 2009 um 9:55 pm

        Worauf beziehst Du Dich mit Wesenseigenschaft (Ich verstehe das Wort in dem Zusammenhang gerade nicht)?

      • mojamalarevolucja 30. April 2009 um 12:24 pm

        Du schriebst:

        „Es ist durchaus denkbar, dass sich in einer Informations-, Medien,- und Kommunikationsgesellschaft wie der unsrigen andere Verhaltensweisen entwickeln (weil sie der Maximierung von Wählerstimmen nützen), als etwa im 19. Jahrhundert, oder noch früher.“

        Ich sehe nicht weswegen durch eine erhebliche Evolution der Kommunikationssysteme und -kanäle heute von einem grundlegender, ergo wesentlichen qualitativer Wandel sprechen sollte. Meines Erachtens haben sich Aufrichtigkeit und Opportunismus in der Politik nicht wie du oben schreibst (z.B. wegen der Kommunikationsmittel) näher gekommen. Was sich vielmehr verändert hat ist die Sphäre in der Politik stattfindet. Die Legitimation in einem traditionell absolut-monarchistischen System funktioniert grundlegend anders als in einer liberalen Demokratie. Ebenso funktioniert die Legitimation in einer liberalen Demokratie mit starken Medienzugang vollkommen anders als eine ohne. Die Tatsache, dass wir schon seit der Weimarer Republik, insbesondere jedoch mit dem Dritten Reich und der Nachkriegszeit von einen enormen Medienboom sprechen können ist meines Erachtens offensichtlich mit dem Zugang zu den entsprechenden Produktionsmitteln verbunden und einer Liberalisierung des Medienmarktes (was besonders die Nachkriegszeit ab 1960 betrifft; ein einfacher Vergleich [z.B.] der Printmedien-Standpunkte dürfte dies eindrucksvoll zeigen). Neue Kommunikationskulturen fordern neue Legitimationswege [und -objekte]). Dass sich hierdurch jedoch irgendetwas an der Aufrichtigkeit der Politik verändert hat, halte ich für eine fragwürdige Annahme. Aber wie gesagt, ich will das nicht ausdiskutieren, weil wieder mal das Material fehlt. Insofern möchte ich meine Äußerungen als These verstanden wissen.

      • metepsilonema 3. Mai 2009 um 9:54 pm

        Ich bin kein Politiker, und weiß daher nicht wie ich mich verhalten würde. Aber wenn mein Ziel die Maximierung von Wählerstimmen ist, und – nehmen wir einmal an – die Strategie mein Fähnlein nach dem Wind zu drehen prinzipiell erfolgversprechend sein, und ich über mediale Kommunikationsmöglichkeiten wie das Fernsehen Botschaften einfach und zugleich weit verbreiten kann, werde ich das versuchen. Habe ich damit Erfolg, wird es Nachahmer geben. Die Strategie verbreitet sich, und sie tut das vor allem weil es der politische Gegner so einfach hat sie anzuwenden. Das muss vielleicht kein qualitativer Wandel sein, aber das hatte willyam – wenn ich seinen ursprünglichen Kommentar noch einmal lese – auch nicht im Sinn. Das Spiel mit und in den Medien hat schon etwas von Inszenierung und Theater – und eben auch von Opportunismus. Das gab es früher in dieser Form nicht, weil die technischen Möglichkeiten fehlten, und weil die Allgemeinheit nicht alles mithören konnte war es auch nicht notwendig. Ich kann willyams Satz […] wie nah sich Aufrichtigkeit und Opportunismus in der Politik inzwischen sind nachvollziehen. [Kann es vielleicht sein, dass dich ursprünglich mehr das mitschwingende Lamento gestört hat?]

      • mojamalarevolucja 4. Mai 2009 um 11:18 am

        Ja, weil ich es nicht mag, wenn es so klingt als würden die Dinger schlimmer, wenn sie faktisch lediglich anders aussehen als vorher. Dein Beispiel des opportunistischen Politiker entspricht genau dem was ich gesagt habe: Hat do Politika mit Opportunismus Erfolg, so wäre es nichts Ungewöhnliches, wenn andere die gleiche Praktik verfolgen (wohlgemerkt: Es gibt durchaus auch Politikan mit einer ganz eigenen Moral, aber gut). Tatsache ist, dass der Erfolg eines Opportunisten immer davon abhängt wie viel Unterstützung er für seine „Strategie“ erhält und die moderne Medienlandschaft ist nicht nur eine, in der man mit Versprechen rumhuren kann wie es einem beliebt, sondern auch eine, in der man mehr Informationen erhalten kann, die Politikan sich also nicht nur vor einer immer weiter ansteigenden Anzahl von Wählan rechtfertigen müssen, sondern auch einer potenziel immer stärkeren Kontrolle unterliegen, weil Informationen nie so pluralistisch waren, wie sie es heute sind. Opportunismus hat immer zwei Seiten: Der aktive Part, der sich anbiedert und derjenige, der ihn zulässt. Dank der Medien und dank der Demokratisierung der Gesellschaft sind es heute ein Großteil der Bürgan und die FDGO, vor denen sich Politikan heute in erster Linie zu verantworten haben. Früher einmal waren es wahlberechtigte Männer, Oberschichten, Gott, Vasallen, Adelige etc. etc. Aber wie du schon sagst, vielleicht war sowohl von deiner als auch von willyams Seite kein qualitativer Wandel gemeint und meine Ausführung erübrigt sich. Ich reagiere tatsächlich alergisch darauf, wenn einerseits Dinge unnötig dramatisiert werden und andererseits die Verantwortung in eine wie mir scheint falsche Richtung verschoben wird. Jedenfalls befremdet mich die Frage, ob es sinnvoll wäre eine demokratische Schreckstunde zu verursachen, um in der Politik etwas zu verändern sehr, da für mich – wie gesagt – die Depolitisierung der Gesellschaft schon eine einzige Schreckstunde (oder besser -phase) ist. Nicht jeder kann eine Partei gründen, aber wir reden nicht von ein paar zerstreuten Bürgan, sondern von fast doppelt so vielen Falschwählan wie SPD oder CDU Mitgliedan und einem Vielfachen an Nichtwählan (etwa 13x mehr als SPD und CDU zusammen).
        Ich würde mich gerne auf die Diskussion einlassen, ob die Bürgan in Deutschland zu wenig Zeit dafür haben sich politisch zu betätigen, denn ich persönlich zweifel in vielen Fällen daran. Demokratie ist etwas, für das alle etwas leisten können. Es ist keine kostenlose Leistung, bei der man das Denken anderen übertragen kann. Aber da gleiten wir in eine andere Debatte (die ich wie gesagt gerne führen würde), die mit dem Ursprungsthema nur noch wenig zu tun hat.

      • willyam 4. Mai 2009 um 9:53 pm

        Ich bin in der Regel auch einer, der eher auf Kontinuitäten als auf (meist erst im Rückblick interpretierbare) Brüche Wert legt. Aber nur eben in der Regel. ;-) Fraglos ist meine implizite Annahme, früher wäre man ehrlicher gewesen, eine naive Rückprojektion meinerseits. Sowohl quantitativ als auch qualitativ mag sich da wenig verschoben haben; da gebe ich Dir grundsätzlich Recht. Aber übergehen wir damit nicht die „qualitative“ Änderung unseres politischen Systems? Es macht einen massiven Unterschied, ob sich Despoten, Autokraten und Monarchen unehrlich und opportunistisch geben – oder ob es frei gewählte, unabhängige und der formalen Verfassung nach allein ihrem Gewissen verpflichteten Vertreter des Volkes sind, die ein solches Verhalten an den Tag legen. Die qualitative Wirkung, die sich für mich daraus ergibt und mit der Zeit festsetzt und verstärkt, ist eine Abschreckende: Ich werde desillusioniert. Weil allenthalben demokratische Strukturen Platz für Interessen freihalten, über die nicht abgestimmt wird.

        Reichlich verkürzt, das; aber ich hoffe, es macht deutlich, worauf ich mit meinem ursprünglichen Satz hinauswollte? _ w

      • mojamalarevolucja 6. Mai 2009 um 10:03 am

        @willyam

        Was macht den opportunistischen Abgeordneten schlimmer als den opportunistischen Monarchen? Vielmehr spricht das was du sagst doch dafür, dass das Bedenkliche wenn dannist reden und am ehesten bei denjenigen liegt, die irreale Versprechen und singuläre Belohnungen mit einem Kreuz belohnen. Das, im Übrigen, ist auch Opportunismus und zwar in Bezug auf die Grundidee, dass die Politik auf die Gemeinschaft und das Gemeinwohl zielen sollte. Deswegen bleibe ich nach wie vor dabei: Das Wichtigste, um eine politische Gemeinschaft gestaltungsfähig zu halten, ist, sie zu politisieren indem man Meinungsbildung betreibt und Menschen klarmacht, wo sie was und wieviel ändern können. Eine ehrlichere Politik muss man in einer Demokratie bei denen einfordern die sie zulassen, nicht bei denen, die sie betreiben. Alles andere käme einer Behandlung von Symptomen gleich.

        Das demokratische System zeichnet sich (auch) dadurch aus, dass Fehlversagen des Einzelnen nicht direkt zur Geltung kommen kann, sondern ausgehandelt werden muss. Darin sehe ich eine (potenzielle) Eingrenzung des Opportunismus, die stärker ist als in jedem anderem System. Aber gut, auch Aristoteles hat zwischen zwei Arten der „Herrschaft von Vielen“ gesprochen und die Demokratie war bei ihm die Herrschaft des Pöbels. Dass Viele herrschen reicht eben nicht aus: Sie (das Volk) müssen ihre Politik auch auf das Gemeinwohl richten.

      • willyam 6. Mai 2009 um 2:15 pm

        Vielleicht täusche ich mich ja – aber drehen wir uns ejtzt im Kreis: wenn das Problem am ehesten bei denjenigen liegt, die irreale Versprechen und singuläre Belohnungen mit einem Kreuz belohnen … welcome back zum Ausgangspunkt der Diskussion: Wie wählt man, wenn eine ‚echte‘ Wahl unmöglich ist? Indem man niemanden wählt?

        Natürlich nicht. Man wählt, indem man seine Aufmerksamkeit auf die Veränderung des Systems konzentriert, und weniger die Symptome behandelt – ganz wie Du sagst. Die Schwierigkeit sehe ich nur darin (und das ist der status quo), dass die ursprünglich gesellschaftsvertraglich vereinbarte Aufgabenteilung, nach der ich arbeite und jemanden deligiere, um meine politischen Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse weiterzutragen, sich in zwei Systeme (ich benutze das keineswegs so hermetisch, wie es die Systemtheorie vorschlägt) aufgesplittet hat. Sie bleiben ganz offensichtlich zwar miteinander (und selbstverständlich auch mit anderen Gesellschaftsbereichen) verbunden, folgen aber meines Erachtens unterschiedlichen Logiken. Die Politik suggeriert eine Offenheit, eine Feinfühligkeit nach Außen, ein ‚Für Dich und mich Dasein‘, wenn Du so magst, das sie aufgrund ihrer inneren Starrheit jedoch nicht umzusetzen in der Lage ist. Grob gesprochen kollidieren im Raum ihrer Zuständigkeit (mindestens) zwei Interessensklassen: Die der zwangsläufig notwendigen demokratischen Legitimation durch freiheitliche Wahlen einerseits mit der der systemischen, langfristig orientierten Aufrechterhaltung und des Ausbaus gesellschaftlicher Ordnungen andererseits. Der Idealzustand wäre gegeben, wenn beide Interessensklassen zusammenfielen: Das Volk, die Bürger, die Gesellschaft äußert ihre zahlreichen Interessen, die die Politik zu schlichten bemüht ist. Faktisch verläuft es so, dass sich Anspruch (und als erweitertes Wortspiel: das Ansprechen der Wähler) und Realität nicht decken können. Nicht nur etwa deshalb, weil Kompromisse in der Natur der Demokratie angelegt sind. Sondern weil, zum Teil, ihre Zusammensetzung gewisse Probleme aufwirft; zum Teil natürlich der Einfluss gewisser (vor allem marktwirtschaftlicher) Teilinteressen überwiegt, die als unser aller Interesse ausgegeben werden.

        Natürlich: Marktwirtschaftliche Kreisläufe bilden die Basis unseres Zusammenlebens – kein Zweifel. Aber wenn ihre Interessen, ihre Interessenvertreter mehr und leichteren Zugriff erhalten und ein Interessensausgleich ausbleibt … dann stehe ich vor einer großen Fassade, einer Leinwand, einem Fake. Daher rührt vermutlich die Angst vieler Menschen: Wenn sich schon auf ‚demokratischem‘ Wege wenig bewegen lässt, braucht es offenbar eine Revolution. Und spätestens da festigt sich die Enttäuschung über das politische System: Denn „[d]ie Politik hat nicht die Aufgabe die Revolution zu verhindern. Sondern sie unnötig zu machen“ (mspro). Die ‚wirkliche Welt‘, in der ich lebe, beweist mir allerdings stur, dass sie es auf eine Revolution (welcher positiver oder negativer Art und Auswirkungen auch immer) anlegt …

      • metepsilonema 7. Mai 2009 um 9:09 pm

        @mojamalarevolucja

        Zeit für Demokratie. Das hätte ich auch gerne einmal diskutiert. Vielleicht schreibe ich am Wochenende einen (kurzen) Artikel.

        Es stimmt, dass Informationen heute verfügbarer denn je sind, aber es ist immer auch eine Frage des Gedächtnisses. Wenn die Person X die Forderung Y stellt, aber vor einem halben Jahr Z vertreten hat, wer erinnert sich daran (hier ein Beispiel, wo sich ein wenig nachbohren angeboten hätte, was man entweder nicht tat, weil man nicht wollte, oder nicht bescheid wusste)?

      • Lara 9. Mai 2009 um 4:20 pm

        Da der Mensch nicht immer überall sein kann bedarf es für solche Schlenkerkurse Medien + ein Gleichgewicht zwischen Naivität und kritischer Grundeinstellung. Mehr ist sicher nicht möglich, aber wenig ist das nicht. Ich gebe gerne zu, dass das das Grundproblem nicht löst, aber natürlich muss man sich auch immer bewusst sein, dass solches Wissen in einem anderen politischen System schon grundsätzlich herzlich egal ist, weil Mitsprache systemisch ausgeschlossen wird. Ich denke, dass ist jedem bewusst, aber trotzdem, finde ich, dass das immer wieder einer Erwähnung bedarf.

      • willyam 9. Mai 2009 um 10:39 pm

        @ metepsilonema:

        Es verschränken sich damit aber zwei Zeitachsen: Die Frage des politischen Gedächtnisses (diachron) lässt sich nur über eine Präferenzentscheidung, wie ich gegenwärtig mit der Ressource Zeit umgehe (synchron), beantworten. Und Zeit bzw. Aufmerksamkeit ist eine Sache, die an allen Ecken und Ende beworben wird. Die Konkurrenz der Politik von Seiten erlebnisbetonenden, marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft ist einfach zu massiv. It’s your decision: politics or consumption.

      • Lara 10. Mai 2009 um 3:47 pm

        Das wäre in einem Artikel über Zeit für Demokratie eben zu diskutieren. Ob es wirklich „choice“ ist. Die Frage ist sicherlich nicht einfach zu beantworten, denn wenn man nicht nur die liberale, sondern auch die psychologische Ebene hinzuzieht, lässt sich manchmal – wie ich finde – durchaus nachvollziehen, weswegen Bevölkerungsteile der Politik den Fernseher vorziehen (nicht umsonst gibt es das Wort „Glotze“). Auf der anderen Seite ist es gefährlich politisches Desinteresse damit zu rechtfertigen. Für einen solchen Artikel würde ich mir auch wünschen den Konsum als politische Strategie zu berücksichtigen.

      • willyam 10. Mai 2009 um 5:27 pm

        Ich hatte vor einer halben Ewigkeit eine Auseinandersetzung versucht. Allerdings vernachlässigt sie genau den Punkt, den Du, Lara, einforderst. Vermutlich müsste man, um Deinem Anliegen gerecht zu werden, in diese Richtung: Nicht handeln: Versuch einer Wiederaufwertung des couch potato
        angesichts der Provokation des interaktiv Digitalen
        denken?

      • metepsilonema 10. Mai 2009 um 9:52 pm

        Ich habe mal wieder zuviel versprochen: Ich werde noch etwas Zeit für den Artikel brauchen. Auf jeden Fall danke für eure Anregungen – ich werde versuchen sie einzuweben.

  29. Gregor Keuschnig 26. April 2009 um 9:03 am

    @mojamalarevolucja
    Ich werde es vermeiden auf Aussagen zu antworten, in denen Sie mir Standpunkte unterstellen, die ich gar nicht geäussert habe. Es ist beispielsweise absurd, Parteien nicht nach der Programmatik zu beurteilen. Hierin geht allerdings der Trend in der medialen Aufbereitung: entweder werden Theman personalisiert (positiv oder negativ – je nachdem) oder sie werden auf einer Meta-Ebene hysterisiert (Beispiel: Kinderpornografie). Letzteres spielt für uns z. Zt. keine Rolle.

    Dass die medialen Inzensierungsrituale von Politik eine stärkere Rolle spielen als in den 50er Jahren und diese naturgemäss auch beeinflussen, müsste jedem einleuchten, der sich ein bisschen mit der deutschen Politik nach 1945 beschäftigt hat. Dass Sie „keinen Grund“ darin sehen, ist – mit Verlaub – vollkommen unerheblich: die Anschauung dessen, was sich im Treibhaus Berlin abspielt müsste ausreichen. Theoretisch besteht natürlich „kein Grund“ so zu reden wie Seehofer – praktisch verspricht er sich davon Wählerstimmen. Also ist er als Bundesminister für Genmais – als bayerischer Ministerpräsident dagegen. Obwohl sich zwischen den beiden Entscheidungen (ca. zwei Jahre) keine neuen Erkenntnisse ergeben haben. Seehofer hat festgestellt, dass die Mehrheit der Bauern dagegen ist – dann ist er auch dagegen, obwohl er vor zwei Jahren noch dafür war.

    (Am Rande: Seehofer ist bayerischer Ministerpräsident, obwohl er gar nicht zur Wahl stand. Der Kandidat Beckstein, mit dem die Wahl bestritten wurde, trat nicht zur Wahl an und überliess das Feld Seehoifer, der parteiintern zum Kandidaten ausgelobt wurde. Formal ist dies korrekt – tatsächlich eine Katastrophe für die politische Teilhabe: CSU-Wähler hätten ggf. anders abgestimmt, wenn sie gewusst hätten, dass nicht Beckstein sondern Seehofer zur Wahl kommt.)

    Wie man systemimmanent seine Unzufriedenheit in eine Partizipation in einer Partei oder gar der Gründung einer eigenen einbringt, hatte ich auch schon gesagt. Hier sind wir uns einig. Dennoch kann man nicht alle mit der derzeitigen Lage Unzufriedenen auffordern, eine Partei zu gründen oder sich in eine Ochsentour einbinden zu lassen.

    • mojamalarevolucja 28. April 2009 um 7:21 am

      Welche Standpunkte habe ich unterstellt? Ich habe lediglich an einer(!) einzigen Stellen gemutmaßt, dass du mit der Zuteilung von politischen Einfluss nicht einverstanden bist. Es ist dir natürlich überlassen, dazu Stellung zu nehmen, ebenso wie es dir überlassen ist einfach gar nichts dazu zu sagen, wenn du keine Lust hast, nur würde ich doch darum bitten meinen Kommentar, der vor allem ein Standpunkt war, als solchen zu deformieren. Dein dahingehendes Beispiel verstehe ich nicht, da es überhaupt nichts mit irgendeiner Untestellung zu tun hat, aber gut. Nun zum Inhaltlichen.
      Ich beurteile Politik für gewöhnlich nach dem was passiert und nicht nach dem was beteuert und niedergeschrieben ist. Einer Partei eine klare Prommatik zuweisen zu wollen scheint mir ohnehin fraglich, da Parteien vielleicht mehr als theoretische Konstrukte sind, aber sicherlich alles andere als weniger(!) veränderbar als die Meinung und Generation ihrer xtausenden Mitgliedan. Die CDU der 80er Jahre mag mit der CDU der Gegenwart vergleichbar sein, evtl vergleichbarer als jede andere Partei, aber die Unterschiede insbesondere was Steuerpolitik, Außenpolitik, Familienpolitik, etc. etc. etc. sind enorm. Das Gleiche gilt für die 90er und nähert sich je weiter wir Richtung Gegenwart schreiben einem (ungefähren) Gleichgewicht. Die Stellungen zu bestimmten Politiken ändern sich beim Regieren. Auch daran, würde ich behaupten, hat sich seit Unzeiten nichts geändert. Nicht umsonst ist das Konzept Realpolitik seit den ersten Schriftzeugnissen belegt. Damals musste sich die herrschende Klasse jedoch anders vor der Bevölkerung rechtfertigen und Opportunismus richtet grundsätzlich nur gegen die, vor denen es sich zu verantworten gilt. Dass man heute über alle Medienkanäle von Plakaten, über Kugelschreiber, öffentliche Reden bis hin zu Youtube buhlen muss, ganz einfach, weil es geht und weil es bei der Masse ankommt, vor der man sich rechtfertigen muss, versteht sich von selbst. Dass man zu aristokratischen Zeiten, zu denen des Sonnenkönigs oder unter Väterchen Stalin bzw. Hitler (angeblich) weniger gebuhlt hat, ist eine sehr steile These. Verkauft wurde Politik schon immer, wenn die, die an ihr teilhatten bereit waren auch einzukaufen. „Mediale Inszenierungsrituale“, wie du sie nennst, sind eine Form und ein Indikator, um wen geworben wird und wer mobilisiert werden soll, aber es sagt nichts über das Verderben der Politik. Heute besitzen die Bürgan so viel strukturellen Einfluss wie zu kaum irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte. Wenn du behauptest, man könne von den Unzufriedenen nicht fordern, ihre Meinung demokratisch zu organisieren, dann frage ich mich, was man dann von ihnen erwarten kann. Mir fällt nur eine andere ein: Revolution. Man kann natürlich systemkritisch argumentieren. Man kann argumentieren, die Bürgan seien auf Grund ihrer körperlichen Belastung nicht mehr in der Lage, sich politisch zu beteiligen, oder sie hätten keine Zeit, oder aber, dass die Parteistruktur undemokratisch ist. Aber dann bitte auch so konkret und nicht verdeckt hinter Behauptungen wie der genannten. Zumindest zwei meiner angesprochenen Rechtfertigungen für nicht-politische Beteiligung halte ich für ungültig. Viel wahrscheinlicher finde ich die Rückführung der Unzufriedenheit bei gleichzeitiger politischer Lethargie auf die (richtigerweise) geringen persönlichen Einfluss der einzelnen Wählan, sowie einer fehlenden Bereitschaft sich mit seiner politischen Meinung tiefergehend auseinanderzusetzen bzw. sie im Sinne eines mehrheitsfähigen Kompromiss zu modifizieren. Eine egozentrische Gesellschaft ist eben weder zu Kompromissen noch zu politischer (d.h. gemeinschaftlicher) Arbeit fähig. Ich sehe darin nicht den ausschließlichen Grund für die derzeitige Lage. Es gibt hunderttausende Bürgan, die trotz ihrer Unzufriedenheit politische Arbeit (auch außerhalb von Parteien) leisten. Dennoch scheint mir das Verhalten vieler Bürger weniger demokratisch als es auf dem Papier steht.
      In einer Demokratie überlässt man Politikan lediglich das Treffen von Entscheidungen. Alles andere entsteht durch die Organisation der Bevölkerung z.B. in Parteien, in Lobbies, in Medien, etc. In der Bevölkerung scheint dagegen die Meinung vorzuherrschen, man könne sämtliche Politik outsourcen wie in jedem anderen Wirtschaftsbereich auch und dann „die Politiker“ (die ja im Prinzip vor allem Platzhalter sind) für Versagen verantwortlich machen. Das ist entweder Missverständnis, dass es zu klären gilt, oder aber eine sehr dreiste und undemokratische Annahme.

  30. Gregor Keuschnig 14. Juni 2009 um 6:43 pm

    Vielleicht als Ergänzung ist das hier von Interesse (selber noch nicht gehört).

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